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Schmidt Liest Proust

Schmidt Liest Proust

Titel: Schmidt Liest Proust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Schmidt
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jähe und tiefe Aufmerksamkeit verriet, die manchmal dem Gesicht des schelmischen jungen Mädchens ein gesetztes, ja ernstes Aussehen gab «. Oder wenn Andrée » schmeichelnd den Kopf an Albertines Schulter lehnte und sie mit halbgeschlossenen Augen in die Beugung des Halses küßte «. Andere Männer mögen solche Kleinigkeiten zur Kenntnis nehmen, » ohne daß ihre Gesundheit oder ihre Stimmung dadurch beeinträchtigt wird, während sie Krankheits- und Leidensträger für in dieser Hinsicht anfällige Wesen darstellen «. Aber sein Gedächtnis spielt seiner Leidensbereitschaft zu, weil er retrospektiv noch Albertines kleinste Gesten umdeutet. Für diese Form von Eifersucht braucht man dann gar keine Realität mehr, es ist eine » Selbstintoxikation «. Sollte er Albertine jemals lieben, so wird er viel zu leiden haben, das ist ihm jetzt schon klar. Also nichts wie weg und auf die nächsten drei Bände verzichten?
    Nun kommt für Marcel und seine Mutter ebenso wie für den Leser eher ungelegen der Besuch Madame de Cambremers, die über die Vor- und Nachteile ihrer beiden Landsitze und über ihre Lieblingsmaler reden will. Man geht dazu ins Hotel: » Der bequemste Raum im Hotel, um jemanden zu empfangen, war der Lesesaal, jener einst so erschreckende Ort, den ich jetzt zehnmal am Tage betrat und als mein freier Herr wieder verließ, wie jene leichtkranken Irren, die schon seit langer Zeit Pensionäre eines Heimes sind und denen der Arzt den Schlüssel des Hauses anvertraut hat. «
    Die Madame hat – was bisher als einziges ihre Aufnahme ins Buch entschuldigt – ein schadhaftes Gebiß: » Jedesmal, wenn sie von Ästhetik sprach, traten ihre Speicheldrüsen, wie diejenigen gewisser Tiere im Augenblick der Brunst, in eine Phase der Hypersekretion ein, so daß der zahnlose Mund der alten Dame im Winkel ihrer mit einem leichten Bärtchen bedeckten Lippen ein paar Tropfen durchsickern ließ, die nicht dort hingehörten. Sofort schluckte sie sie auch schon wieder mit einem tiefen Seufzer zurück wie jemand, der eben zu atmen beginnt. « So eine körperliche Eigenheit hat den Vorteil, daß die durch die Lippen sickernden und aufgeschluckten Tropfen das Echtheitssiegel ihrer Äußerungen sind.
    Monet, Manet oder gar Le Sidaner, wer ist das größere Genie? Sogar man selbst ändert ja im Lauf der Zeit seine Meinung: » Sie bewies ebensoviel Gewissenhaftigkeit wie Entgegenkommen darin, mich über die Entwicklung ihres Geschmacks zu informieren. Man hatte dabei das Gefühl, daß die Phasen, durch die dieser ihr Geschmack hindurchgegangen war, ihrer Meinung nach nicht weniger wichtig waren als die verschiedenen Manieren von Monet selbst. «
    Aber wie soll man Menschen in Geschmacksfragen überzeugen, wenn sie den langen Weg zu dem uns eigenen verfeinerten Geschmack selbst zurücklegen müßten, um mehr als nachzuplappern? Man kann ihnen diese Arbeit am eigenen Urteil ja nicht abnehmen. Deshalb ist es eigentlich sinnlos, darüber zu sprechen. » Dennoch mußte sie sich ja bewußt sein, daß sie mit den Worten: ›Aber nein, es ist ein kleines Meisterwerk‹ bei der Person, die sie damit zurechtwies, nicht den gesamten Ablauf einer künstlerischen Kultur improvisieren konnte, an deren Ende sie sich dann geeinigt hätten, ohne noch weiter diskutieren zu müssen. «
    Ach, wenn Proust sich doch öfter auf seinen Humor verlassen würde! » ›Das ist ganz wie in Pelléas‹, sagte ich, um ihrer Neigung zur ›Moderne‹ entgegenzukommen, ›dieser Rosenduft, der bis zu den Terrassen aufsteigt. Es kommt einem so machtvoll aus der Partitur entgegen, daß ich selbst, da ich an Heuschnupfen und an Rosenfieber leide, jedesmal niesen mußte, wenn ich diese Szene hörte.‹« Vielleicht kommt einem das aber nur komisch vor, weil solche kostbaren Frechheiten von narrativen Schlackebergen umstanden sind.
    Zuletzt wird Albertine wieder ein wenig vorgeführt, weil sie die Frage, ob sie in Holland » die Vermeers « gesehen habe, verneint, » sie glaubte, es handle sich um irgendwelche lebenden Menschen «. Ja, wir verlieben uns immer unter Niveau.
    Unklares Inventar:
    – Dolman.
    Katalog kommunikativer Knackpunkte:
    – » ›Es ist ganz merkwürdig‹, setzte sie hinzu, während sie einen durchdringenden und entzückten Blick auf einen unbestimmten Punkt im Weltall heftete, wo sie offenbar ihr eigenes Denken abgezeichnet fand. «
    Verlorene Praxis:
    – Sich nicht anmerken lassen, wie man nicht ohne Vergnügen einzelne Tränen in ihren Augen

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