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Schmidt Liest Proust

Schmidt Liest Proust

Titel: Schmidt Liest Proust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Schmidt
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ihr selbst durchweicht dem Körper meiner Freundin sich anzulegen schien, als wolle ein Bildhauer danach einen Abdruck von ihren Formen nehmen, riß ich die Hülle von ihr fort, die so eifersüchtig ihre ersehnte Brust umschmiegte, und zog Albertine dicht an mich heran. « So weit so gut, aber was tut er jetzt mit ihr? Er nimmt ihren Kopf zwischen seine Hände und zeigt ihr die stummen Wiesen, » die sich im sinkenden Abendlicht bis an den Horizont erstreckten «. Das ist doch pervers, aber auf eine ganz perverse Art.
    Am Mittwoch darauf fährt Marcel mit der Bahn zu Madame Verdurin, und » der kleine Kreis « ihrer Getreuen steigt zu, angeführt von Doktor Cottard. Es sind immer noch dieselben Gestalten, und man weiß immer noch nicht, was der Reiz an solch einem Salon sein soll. Die strenge Patronin hat es nicht gern, wenn jemand, weil seine Mutter stirbt, weil er Grippe hat oder weil er verliebt ist, einen der Besuchstage verpaßt. Gerade bei den Verliebten versteht sie sich darauf, » die Wunde auszubrennen «, damit sie bald wieder vollwertige Salongäste sind.
    Saniette, der wegen Langweiligkeit aus dem Kreis vergrault worden war, ist wieder mit von der Partie, wenn sich an seiner Langweiligkeit auch nichts geändert hat. Immerhin kann die Beschreibung der Langweiligkeit eines Langweilers kurzweilig sein: » Da er sich bewußt war, daß er oft langweilig wirkte und daß man ihm nicht zuhörte, versuchte er, anstatt, wie Cottard es getan hätte, seine Rede zu verlangsamen und die Aufmerksamkeit durch eine gebietende Miene zu erzwingen, für den zu ernsthaften Charakter seiner Gespräche durch einen scherzhaften Ton Verzeihung zu erlangen, auch sprudelte er seine Erzählungen viel zu rasch hervor, haspelte sie herunter, gebrauchte Abkürzungen, um weniger langatmig oder auch vertrauter mit den Dingen, von denen er sprach, zu erscheinen, erweckte aber dadurch nur, indem er sie vollends unverständlich machte, den Anschein, als vermöge er nie ein Ende zu finden. « Es kommt durchaus einmal vor, daß ein gutherziger Mitgast ihm für einen seiner mißlungenen Scherze ein Lächeln schenkt, » aber nur ganz verstohlen, ohne die Aufmerksamkeit der anderen zu erregen, so wie man jemandem einen Geldschein zusteckt. […] Lange nachdem die Geschichte beendet und unter den Tisch gefallen war, sah man Saniette noch betrübt und einsam in sich hineinlächeln, als genieße er in sich selbst und ganz für sich allein noch deren Köstlichkeit, die ihm, so tat er wenigstens, genügte, auch wenn die anderen nichts daran gefunden hatten «.
    Neu im Kreis ist der Bildhauer Ski, den man so nennt, weil sein polnischer Name zu schwer auszusprechen ist. Er hat mit Elstir ein paar wenige Äußerlichkeiten gemein: » Sie genügten jedoch, damit Elstir, der ihm einmal begegnet war, gegen Ski eine tiefe Abneigung faßte, welche uns, mehr noch als extrem andersgeartete Wesen, diejenigen einflößen, die uns ähnlich sind, nur in geringerer Ausführung, bei denen alles offen zutage liegt, was wir an Unerfreulichem in uns haben, die unsere inzwischen abgelegten Fehler noch einmal vor uns ausbreiten und uns aufs fatalste in Erinnerung rufen, wie wir wahrscheinlich in den Augen anderer gewirkt haben, ehe wir wurden, was wir nunmehr sind. « Diejenigen, die unsere inzwischen abgelegten Fehler ständig vor uns ausbreiten, sind ja eigentlich unsere Eltern, die einerseits einfach so bleiben, wie wir nicht sein wollten, und uns andererseits dauernd erzählen, wie wir angeblich einmal waren.
    Unklares Inventar:
    – Supraporten, Piston.
    Katalog kommunikativer Knackpunkte:
    – » Er suchte beim Sprechen seine Worte, um glauben zu machen, daß es sich um einen ganz besonderen Eindruck handle, den er beschreiben wolle. «
    Verlorene Praxis:
    – Von dem Eisenbahnbeamten in Doville sehr tief gegrüßt werden.
    – Für jemanden einen » Nachsommer der Zuneigung « empfinden.
    106 . Fr, 3.11., Berlin
    Warum muß ich, wenn ich »9.« und »10.« lese, immer noch kurz nachdenken, um welchen Monat es sich dabei handelt?
    Kann man jemanden lieben, der Loriot und die Sesamstraße nicht mag?
    Wieso kann ich mir den Unterschied zwischen »succubus« und »incubus« nicht merken?
    Warum steht fast immer ein Blutspendebus vor den Schönhauser-
Allee-Arcaden, mit einem Stromkabel, das quer über den Fahrradweg führt und von einem Plastebalken geschützt wird, über den man mit dem Rad stürzt. Demnächst pieksen sie einen einfach ungefragt auf der Straße an und

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