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Schmidt Liest Proust

Schmidt Liest Proust

Titel: Schmidt Liest Proust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Schmidt
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diese Wangen, die so freundlich und frisch sind wie das Innere einer Mandel, die kleinen samtweichen Hände, die dabei doch Nägel haben wie Krallen … Sieh nur, Marie, jetzt trinkt er seine Milch mit einer Andacht, die mir Lust macht, ein Gebet zu sprechen.‹ « So etwas hat noch keine zu mir gesagt, dabei sehe ich bestimmt genauso aus beim Milchtrinken.
    Außerdem erfahren wir, daß er es nicht leiden kann, wenn man ihm eine Serviette umbindet. Aber zu wissen, was jemand nicht leiden kann, sichert einem natürlich noch nicht unbedingt seine Sympathien, er weiß ja nicht, daß man es unterläßt und ihm ganz bewußt keine Serviette umbindet, wenn man ihm begegnet, es ist eine dieser heimlichen Aufmerksamkeiten, die immer unentdeckt bleiben werden. »Was für ein angenehmer Zeitgenosse, er hat mir keine Serviette umgebunden«, so denkt man ja nicht.
    Marcels » sorgenvolle Voreingenommenheit in Richtung Gomorra « wird noch befestigt, weil sich eine schöne, schlanke, bleiche junge Frau am Strand aufhält, die eigentlich etwas für ihn wäre: » Ich stellte mir vor, wieviel schöner sie eigentlich sei als Albertine und wieviel vernünftiger es doch wäre, auf diese zu verzichten. « Aber im Kasino wirft diese Person Albertine sehr intensive Blicke zu: » Man hätte meinen können, sie gebe Signale wie ein Leuchtturmwärter. « Er ist sich sicher, daß sich die beiden schon von früher kennen, für ihn sind es nämlich » erinnerungsgesättigte Blicke «. Außerdem ist er ja ein großer Kenner der weiblichen Kommunikation, und er weiß deshalb, daß, wenn zwei junge Mädchen » diese ganz spezielle Art von Interesse « füreinander zeigen, sich ein optisches Phänomen vollzieht, » indem eine Art von phosphoreszierender Bahn von einer zur anderen lief «.
    Aber Albertine reagiert nicht, und so empfindet die schöne, schlanke, bleiche junge Frau das Erstaunen eines Ausländers in Paris, der » seinen ständigen Wohnsitz nicht in dieser Stadt hat und, wenn er dort einmal wieder einige Wochen zu verbringen gedenkt, an der Stelle des kleinen Theaters, in dem er so hübsche Abende zu verleben gewöhnt war, den Neubau eines Bankgebäudes erblickt «. Ich erkenne dich gar nicht wieder. Wo früher ein kleines Theater war, steht heute eine Bank.
    Listig, wie er ist, rät Marcel Albertine, wieder zu malen: » Wenn sie arbeitete, würde sie sich nicht fragen, ob sie glücklich sei oder nicht. « Deshalb hat man ja früher so viel gestrickt. Das hätte die Frau von Mika Häkkinen ihm mal vorschlagen sollen, aber statt dessen hat sie ihm geraten, wieder ins Tourenwagengeschäft einzusteigen, weil er zu Hause so trübsinnig wurde.
    Marcel freut sich darauf, Albertine in der Bahn die ganze Fahrt über zu küssen, er kommt aber dann nicht dazu, weil im Waggon eine Frau sitzt, die er dem Aussehen nach für eine Puffmutter hält. Da diese weder in Egreville, noch in Montmartin-sur-Mer, noch in Parville-la-Bingard, noch in Incarville, noch schließlich in Saint-Frichoux aussteigt, beginnt er, Albertine einfach trotzdem zu umarmen.
    Auf dem Bahnsteig sehen sie Monsieur Nissim Bernard, Blochs Onkel, der jeden Mittag ins Hotel kommt, um sich von einem Diener, auf den er ein Auge geworfen hat, das Essen bringen zu lassen. Nun hat er es außerdem auch noch auf einen Bauernburschen abgesehen, dessen Gesicht wie eine Tomate aussieht und der einen für ältere Herren unempfänglichen Zwillingsbruder hat. Da Monsieur Nissim Bernard die beiden nicht auseinanderhalten kann, holt er sich immer wieder eine Abfuhr vom Falschen, was ihn verdrießt, und: » Auf die Dauer faßte er auf Grund einer Ideenassoziation eine […] Abneigung gegen Tomaten. « So wird uns Gemüse auf Gemüse verleidet, weil die eine Verflossene wie ein Kürbis aussah und die andere wie eine Kartoffel. Es ist traurig, am Ende werden wir uns geschmeidig und ähnlich akrobatisch durchs Leben bewegen müssen wie Vincent Cassel in »Ocean’s Twelve« durch die Lichtschranken des Bankgebäudes, um den Assoziationen auszuweichen, die uns an Frauen erinnern, mit denen wir nicht glücklich geworden sind.
    Unklares Inventar:
    – Coldcreme.
    Verlorene Praxis:
    – Nie die Hand gegen jemanden erheben müssen, weil man mit seinen Augen alles erreicht, was man will.
    – Wege finden, während man sich mit einem Hund abgibt, immer wieder dessen Herrn zu streifen.
    105 . Do, 2.11., Berlin
    Ohne Grund fiel mir gestern ein, wie der Schienenersatzverkehrbus auf dem Weg von Kahla nach Jena

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