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Schmidt Liest Proust

Schmidt Liest Proust

Titel: Schmidt Liest Proust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Schmidt
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immer in Göschwitz hielt und die Fahrgäste geduldig warteten, während der Busfahrer am Kiosk einen Kaffee trank, und man durchs Fenster den Mechanikern von der Autowerkstatt nebenan zusah, die gemeinsam einen Abschleppwagen einwiesen und danach noch beieinanderstanden, um Männergespräche zu führen. Als sich die Runde aufgelöst hatte, ging der Chef wieder nach hinten, blieb aber noch einmal kurz stehen, bückte sich mit seinem kaputten Rücken und sammelte ein paar Zigarettenkippen aus der mickrigen Blumenrabatte. Ich stelle mir dann immer zwanghaft vor, wie ich mich in solch einem Leben machen würde. Vermutlich habe ich mir das Bild nur gemerkt, weil ich ein Jahr lang an den Kippen vorbeigegangen wäre, ohne den Entschluß zu fassen, mich danach zu bücken. Wenn man sich immer nur merkt, was für einen nicht selbstverständlich ist, hat man am Ende natürlich ein eigenartiges Bild der Welt im Kopf.
    Der Bus fuhr dann weiter durch den Industriepark vor Jena, und man sah mit Bedauern, wie sich heute in solchen Gewerbegebieten, die früher einmal Gegenden mit Charakter waren, nur noch mit Firmen gefüllte Schuhkartons aneinanderreihten. Gewindefabrik. Feuerverzinken. Jenoptik. Spedition. Präzisionsteile. Lithotec. Für das Angenehme im Leben gab es einen »Schlemmer-Treff« und einen »Vicious-Loveclub«.
    Nach Jena mußte ich, weil ich wieder am Rumänisch-Intensivkurs teilnahm. Bei Rumänisch gucken immer alle ungläubig und wollen einen plausiblen Grund wissen, warum man diese Sprache lernt. Ich sage dann, daß »vrajitor« auf Rumänisch »der Zauberer« ist, und wenn man bedenkt, daß »wratch« im Russischen der Arzt ist, aber in den anderen slawischen Sprachen der Arzt immer etwas Ähnliches wie »lekar«, dann reicht das doch als Grund. Wie sich die Semantik verschiebt, Wörter »frei« werden, und andere Bedeutungsnuancen in den Mittelpunkt rücken. Es wäre doch traurig, wenn man nur die Hälfte der Geschichte kennen würde, weil man sich die Nachbarsprachen nicht ansieht.
    Auf dem Hof der Uni in Jena verrosten verklumpte Schrottberge, die von Frank Stella zusammengeschweißt wurden und die er dieser Kleinstadt in einem sicher von den Nachwendewirren verursachten Moment der Unaufmerksamkeit andrehen konnte. Ich habe immer Angst, daß der normale, Kunst nicht für selbstverständlich nehmende Mensch denken könnte, er müßte das jetzt respektieren. Gerade die, die mit Kunst nichts am Hut haben, glauben ja oft noch daran, daß es so etwas wie Kunst gibt. Die Kunst wird von den Künstlern diskreditiert.
    Auf einem Bücherwühltisch vor der Mensa gab es die Memoiren von Simone Signoret: »La nostalgie n’est plus ce qu’elle était«. Und die Frau am Kaffeestand im Parterre der Mensa hat sich schon am zweiten Tag mein Gesicht gemerkt und kesse Bemerkungen gemacht: »Bei dem jungen Mann zuckt nichts mehr, der braucht Zückli.«
    Bei unserer rumänischen Lehrerin konnte ich ein paar Deutschfehler sammeln, die ich so mag, weil sie mir nie einfallen würden. Richtig reden kann ja jeder, dafür gibt es schließlich Regeln. Sie sagte »das Gespül« für »das Geschirr« und »Adler« für »Adliger«, »Das war sehr beeindrucksvoll«, »Das ist schwer durchzuschauen«. Ich habe ihr zum Abschied zwei Tassen mit Samtgriff aus der Kahlaer Porzellanfabrik besorgt, aber weil ich rechtzeitig zur Brillenschlangenparty nach Berlin mußte, habe ich mich bei der schriftlichen Prüfung beeilen und vor dem Schluß gehen müssen und mich nicht getraut, ihr vor den Augen aller Teilnehmer mein Geschenk zu überreichen. Jetzt stehen die Tassen im Küchenschrank. Ich habe auch noch eine eingewickelte Barock-CD (ein Geschenk meiner Mutter für meine erste Freundin), und, ebenfalls in Geschenkpapier, »Murphy« von Beckett, in dem vorne steht: »Viel Spaß mit meinem Lieblingsbuch«, aber ich weiß nicht mehr, wem ich dieses Geschenk am 12. Februar 2000 nicht gegeben habe.
    Sodom und Gomorra, S. 333–353
    Kümmerlich wird man für seine Geduld belohnt, schon die Hälfte von »Sodom und Gomorra« ist vorbei, und nach starkem Auftakt war weder von Sodom noch von Gomorra viel zu lesen. Zum Glück hat es damals in Frankreich ab und zu geregnet: » Beim Anblick von Albertines Regenmantel, in dem sie eine andere Person geworden zu sein schien, die unermüdliche Wandrerin der Regentage, dieses Mantels, der dicht an ihr haftend, geschmeidig und grau, in diesem Augenblick weniger ihr Kleid gegen Nässe zu schützen als vielmehr von

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