Schmidt Liest Proust
diesen Comic über einen Aufenthalt in der touristischen Hölle zu lesen. Der Autor hatte eine sympathische Perspektive, weil er in einem Buch über Nordkorea das Vergnügen, sich im Hotel mit Schuhen aufs Bett legen zu dürfen, für mitteilenswert hielt. Weil kaum einer meiner Freunde französisch sprach, hätte ich das Buch gerne übersetzt, es ist so traurig, seine Freuden nicht teilen zu können. Der einzige in Frage kommende Comicverlag, den ich vom Namen her kannte, war Reprodukt, und es stellte sich heraus, daß sie sowieso planten, »Shenzhen« zu machen, das vorige Buch von Guy Delisle, in dem der Autor in eine boomende chinesische Metropole reisen muß, um dort französische Trickfilmproduktionen zu überwachen. Ich durfte »Shenzhen« übersetzen und habe bei Besuchen im Kreuzberger Büro das Programm von Reprodukt entdeckt und schon auf dem Heimweg verschlungen. Es ist traurig, daß diese Comics in deutschen Buchhandlungen nicht unter »Literatur« stehen, sondern, wenn überhaupt, irgendwo in der Ecke für infantil gebliebene Erwachsene.
Nächstes Jahr nun soll bei Reprodukt endlich auch »Pjöngjang« erscheinen, das Buch zum Atombombenversuch. Man bekommt seltene Informationen über dieses Land. Ich sammle ja immer Extravaganzen von Diktatoren. Es ist nicht einfach, sich im Wettstreit der Exzentriker hervorzutun. Ryszard Kapuscinski, der dieses Jahr beim Nobelpreis wieder übergangen worden ist: »Wenn ich über meine Diktatoren schreibe, lese ich Lehrbücher über Kinderpsychologie.«
Kim Il-Sung, der Vater des jetzigen Präsidenten Kim Jong-Il, ist 1994 gestorben, gilt aber der Verfassung nach auch nach seinem Tod noch als Präsident. Die Zeitrechnung in Korea beginnt mit seiner Zeugung (was skurril klingt, aber womit beginnt eigentlich unsere Zeitrechnung?). Man darf ins Land keine Radios einführen, es gibt nur ein (staatliches) Fernsehprogramm (sonntags auch zwei), das vorwiegend Aufmärsche und raubkopierte Dokumentationen sendet (andererseits: Braucht man Fernsehen? Ich habe keines mehr). Jeder Ausländer wird ständig von einem Dolmetscher und einem Führer begleitet (in anderen Ländern bezahlt man für solch einen Service). Überall arbeiten »Freiwillige« an der Verschönerung der Stadt oder helfen bei der Reisernte aus (bei uns helfen »Freiwillige« bei der Spargelernte und pflegen Grünflächen). Die internationalen Hilfslieferungen werden vom Regime, nachdem man genug zum eigenen Profit abgezweigt hat, je nach Loyalität an die Bevölkerung verteilt (in anderen Ländern sind die Ungerechtigkeiten nicht staatlich monopolisiert). Kim Jong-Il hat seinem Vater zum Siebzigsten einen Turm aus 25 550 Granitblöcken geschenkt, für jeden Lebenstag ein Block. Dieser »Juche-Turm« ist der höchste seiner Art weltweit. Er steht für die »Juche«, die offizielle Ideologie, die Kim Il-Sung »um die Erwartungen seines Volks zu erfüllen« als Weiterentwicklung von Marxismus und Maoismus ausgearbeitet hat. Aus Pjöngjang heraus führt eine fast unbefahrene Autobahn (kaum jemand hat Autos, nachts gibt es keine Straßenbeleuchtung), hin zum »Museum der Freundschaft«, wo die Geschenke für Kim Il-Sung aus aller Welt gezeigt werden. Das Museum ist atombombensicher in einen Berg gebaut. Kim Jong-Il soll angeblich während des Studiums 1 200 Bücher publiziert und sechs Opern geschrieben haben. Bei seiner ersten Partie Golf soll er elf von achtzehn Löchern mit einem Schlag getroffen haben. Überall finden sich Stilisierungen seines »perfekten Gehirns« in Form einer Blume, der Kimjongilia. Offiziell gibt es keine Behinderten, weil Korea eine sehr homogene Nation sei und alle Menschen gesund geboren würden. Weil Kim gesagt hat, daß Fahrradfahren ungesund für Frauen sei, fahren sie auf Dreirädern. Während seine Bevölkerung von der Außenwelt abgeschirmt ist, soll er ein großer Fan des französischen Kinos sein.
Jedenfalls habe ich die Übersetzung jetzt fertig (zuletzt war noch zu klären, was »Lé la?« heißt) und kann mich nun endlich dem Nachruf auf Frau Vampiros Schützling widmen. Vielleicht bleibt ja nebenbei sogar noch die Zeit, mich endlich mal wieder zu waschen.
Sodom und Gomorra, S. 373–393
Im von den Verdurins zum Bahnhof geschickten Wagen nähert man sich der Steilküste. Marcel hat » noch niemals etwas so Schönes gesehen «. Er läßt sogar die Scheibe herab, wobei man vor allem darüber staunt, daß man das in damaligen Wagen schon konnte. Sein Enthusiasmus fällt auf,
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