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Schmidt Liest Proust

Schmidt Liest Proust

Titel: Schmidt Liest Proust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Schmidt
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Zeiten, während derer man nichts mehr unternimmt: » Einen Fuß auf eine Stufe setzen, wenn es nötig ist, scheint bereits ein Erfolg, als wäre einem ein gefahrvoller Absprung gelungen. « Aber irgendwann gibt man auf und setzt keine Füße mehr auf Stufen: » Man kann nicht mehr die ermüdende Anstrengung auf sich nehmen, mit der Jugend Schritt zu halten. « Zumal die Jugend ja in die falsche Richtung rennt.
    Aber ich habe auch einmal irgendwo gelesen, daß man durch Tippen geistig länger frisch bleibt, weil die Finger durchblutet werden oder durch die Bewegung der Finger das Gehirn. Man muß also nur immer fleißig tippen, dann hält man Schritt mit der Jugend. Man hat dann zwar nicht mehr viel Zeit für diese, aber man könnte die Jugendlichen ja zum Beispiel zu sich einladen und Partys für sie geben, bei denen man natürlich ununterbrochen tippen müßte, um nicht auf der Stelle zu Staub zu zerfallen.
    Daß dieser »kleine Kreis« etwas Besonderes ist, erfährt man immer nur als Behauptung, nie aus der Anschauung, denn gewöhnlicher, hartherziger und dümmer als die Getreuen kann man eigentlich nicht sein. Die Patronin » hielt den ›kleinen Kreis‹ für etwas so Einzigartiges auf der Welt, eine jener vollkommenen Gemeinschaften, wie sie nur alle Jahrhunderte einmal zustande kommen, daß sie bei dem Gedanken zitterte, irgendwelche Leute aus der Provinz bei sich eindringen zu sehen, die nichts vom Ring und den Meistersingern wußten, die sicherlich in dem Konzert der allgemeinen Unterhaltung ihren Part nicht durchzuführen verstanden und womöglich, wenn sie Madame Verdurin besuchten, einen der berühmten Mittwochabende, das heißt ein unvergleichliches und so empfindliches Meisterwerk, daß, ähnlich wie bei den zarten venezianischen Glaswaren, ein falscher Ton genügte, um es zu zerbrechen, gründlich verderben könnten «. Meine Partys waren dagegen immer eher aus Jenaer Glas gemacht, falsche Töne konnten ihnen nichts anhaben. In diesem Jahr wird es gar keine geben.
    Marcel fragt Professor Brichot nach seiner Meinung zum ortsnamenkundlichen Werk dieses Priesters aus Combray, und Brichot führt sechs Seiten lang aus, wie fehlerhaft die Broschüre sei. Es geht dabei darum, wie man Namensendungen wie »bricq«, »fleur«, »vieux«, »hon«, »dun«, »ai«, »tuit«, »graignes« richtig entschlüsselt.
    Wieder ein Beispiel für die Technik, mit der Proust Figuren einführt: Oft begegnen sie Marcel ein erstes Mal, bevor er erfährt, um wen es sich gehandelt hat. Man weiß also nie, ob eine Nebenfigur, die kurz porträtiert wird, später einmal ganze Bände erforderlich machen wird. So war es bisher mit Gilberte, Charlus und Albertine. Und jetzt zeigt sich auch, daß die vermeintliche Puffmutter, die ihn am anderen Tag beim Küssen von Albertine im Zug gestört hatte, in Wirklichkeit die russische Fürstin Scherbatow war. Es hat also schon Tradition, den Bekleidungsstil bestimmter russischer Frauen als leicht nuttig zu empfinden.
    Wozu wird das alles berichtet? Eigentlich passiert nicht mehr, als daß der »kleine Kreis« für den Rest der Fahrt im Abteil der russischen Fürstin Platz nimmt. Ich weiß bis jetzt noch nichts über die Genese der »Recherche«, aber ich will hoffen, daß der Verfasser sich, je mehr er sich der Gegenwart nähert und je besser er sich an das Geschehene erinnert, nicht auch entsprechend ausführlich äußert.
    Unklares Inventar:
    – Einen » Kasten « bekommen, Botokuden.
    Katalog kommunikativer Knackpunkte:
    – » Ah! Wir werden also die Marquise de Cambremer sehen? sagte Cottard mit einem Lächeln, das er mit einem gewissen Zug von sentimentalem Schwerenötertum zu untermalen für nötig hielt, obwohl er gar nicht wußte, ob Madame de Cambremer hübsch sei oder nicht. «
    Selbständig lebensfähige Sentenz:
    – » ›Liegt Néhomme‹, fragte ich, ›nicht ganz nah bei Carquethuit und Clitourps? ‹«
    107 . Sa, 4.11., Berlin
    Als ich 2003 über die Bretagne schreiben mußte und mich dort – während das Mädchen, in das ich verliebt war, mit einem Freund durch Andalusien reiste und meine E-Mails nicht beantwortete – wochenlang von Kreisverkehr zu Kreisverkehr katapultierte, von einer »petite ville de caractère« zur nächsten, habe ich im von Studenten und Touristen überschwemmten Schmuckkästchenzentrum von Rennes in einem Comicgeschäft »Pjöngjang« von Guy Delise entdeckt und trotz des Preises sofort kaufen müssen. Es war ein Trost, im Paradies des Tourismus

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