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Schmidt Liest Proust

Schmidt Liest Proust

Titel: Schmidt Liest Proust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Schmidt
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Schauspielern.
    Die Tür zum Saal, in dem jetzt gelesen wurde, befand sich praktisch direkt neben dem Lesepult, man mußte sich durch die auf dem Boden Sitzenden einen Weg zum Rand bahnen, um aus dem Blickfeld der Zuschauer zu kommen. Weil ich nicht wollte, daß die vorlesenden Autoren es auf sich bezogen, wenn ich gleich wieder ging, mußte ich bis zum Ende stehen und bekam sofort Schweißausbrüche, weil mir das so peinlich war. Andere gehen in meinem Alter gar nicht mehr unter Menschen. Obwohl die Vorauswahl bei diesem Wettbewerb aus anonymen Einsendungen getroffen wird, kamen fast alle Teilnehmer von den großen Literaturschulen und schrieben ihre Texte im Präsens. Gewonnen haben drei Mädchen, wobei man keiner der drei vorwerfen kann, daß die anderen beiden auch Mädchen waren.
    Hinterher habe ich jemanden kennengelernt, der in den achtziger Jahren nach einem abgelehnten Ausreiseantrag in der Stadtbibliothek Mitte als Pförtner untergekommen ist. Ich hätte ihn gern überredet, sofort darüber ein Buch zu schreiben. Ich war in der Zeit dauernd in der Stadtbibliothek, um für eine Arbeit über jüdische Mathematiker zu recherchieren, die ich mir aufgehalst hatte. Das Thema der Arbeit war ein Trick, eigentlich galt solches Philologenzeug an unserer mathematisch orientierten Schule nicht als wissenschaftlich, und ich hätte irgendwelche komplexen Gleichungen lösen oder chemische Elemente entdecken sollen, aber ich setzte darauf, daß sie nichts dagegen sagen durften, wenn ich etwas über Juden machte. Heute befremdet es mich, wie befriedigend ich es in diesem Alter schon fand, mich bis in den späten Abend hinein, wenn schon die letzten den Lesesaal verlassen hatten, in Lexika und alte Zeitschriften zu vertiefen, statt in der Zeit mit den anderen Jugendlichen vor der Kaufhalle zu sitzen und Prasselkuchen zu essen.
    Die Karteikästen, das Gefühl, alles Wissen der Welt zur Verfügung zu haben, einen eigenen Schreibtisch mit Büchern füllen zu dürfen, vielleicht fand ich das ja erwachsen. Kopiergeräte gab es natürlich nicht, man mußte seine Kopien einzeln bestellen und holte sie am nächsten Tag ab. Es war so eigenartig bläuliches Papier, das nach Chemie roch. Der Mann an der Garderobe wirkte ein wenig durchgedreht, manchmal schrie er eine Klotür an, ich ahnte ja nicht, daß hier eine stadtbekannte Klappe war. Im Lesesaal saß immer ein dicker Junge mit Hasenscharte, der Tag für Tag murmelnd große Stapel einer Eisenbahnerzeitschrift studierte.
    Mein neuer Bekannter, an dem ich damals vielleicht Dutzende Male vorbeigegangen bin (Pförtner waren ja irgendwie Prominente, spätestens, wenn man sah, daß sie in ihrer Bude oppositionelle Schriften lasen, bestimmt ist der Rockmusiker oder Dichter, dachte man dann), hat mir nun geschildert, wieviele Verrückte und Aussteiger die Bibliothek damals bevölkert haben, irgendwo mußte ja jeder unterkommen in der DDR, denn arbeitslos durfte man nicht sein. Es sollen sogar welche im Gebäude gelebt haben. Oben sei immer einer in Frauenkleidern rumgelaufen. Die Kopierer seien aus Russland gewesen. Er hat immer morgens um vier Zeitschriften gelesen, die man sonst nicht bekam. Es ist faszinierend, etwas über einen Ort zu hören, an dem man zu dieser Zeit auch war. Das ist eben Heimat, solchen Menschen zu begegnen.
    Schade, daß ich das Material nicht für mich habe, eine Bibliothek in der Endzeit der DDR, das wäre ein gutes Thema. Ich war neidisch, weil ich damals zu jung gewesen bin, um in der DDR tiefer in solche Mikrokosmen eingedrungen zu sein. Aber ich hatte ja noch die Hoffnung auf ein Studium, und meine Eltern hatten mir die Angst vor dem Aussteigen eingeimpft. Dabei war die späte DDR vielleicht die beste Zeit für Hilfsarbeiter und Pförtner in der Geschichte der Menschheit. Aber genau kann ich es nicht wissen, weil ich es nicht erlebt habe. Ich habe nur diese kümmerlichen achtzehn Jahre DDR. Bestimmt gibt es zur Zeit schon Journalisten, die an Projekten recherchieren, für die sie sich länger als achtzehn Jahre irgendwohin begeben oder sogar ins Gefängnis stecken lassen, um hinterher darüber einen Bestseller zu schreiben. Immersion journalism , damals war es mein Leben.
    Gerade leuchtet der Himmel über die ganze Breite des Horizonts rosa, mit violetten Wolkentupfern. Jedesmal, wenn ich zu den Bäumen auf dem Platz vor dem Haus sehe, wippen ihre Spitzen ein wenig als würden sie sich wünschen, daß ich sie mehr beachte. Mit meiner neuen Maus fühlt sich

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