Schmidt Liest Proust
die Arbeit an, als sei ich von einer chronischen Arthritis geheilt, die alte hatte noch so eine altmodische, klemmende Kugel im Boden. Jetzt gehorcht der Pfeil, ich kann genau die Links anklicken, die ich sehen will, und muß nicht mehr irgendwo rumsurfen, nur um überhaupt etwas zu machen. Das macht das Leben einfacher, aber natürlich auch berechenbarer.
Sodom und Gomorra, S. 393–413
Der »kleine Kreis« ist bei den Verdurins eingetroffen, die ihren Salon in den Ferien im von den Cambremers gemieteten Anwesen »La Raspelière« betreiben, das zweihundert Meter über dem Meer liegt. Auch Charlus ist anwesend und zieht Marcel in eine Ecke, » um ein Wort zu mir zu sagen, wobei er meine Muskeln abtastete, was eine deutsche Sitte ist «. Diese Sitte kenne ich eigentlich nur aus Westdeutschland.
Während Madame Verdurin ihre Vermieter nur eingeladen hat, um eventuell für die Zukunft Vergünstigungen herauszuschlagen, sind sie ihr für ihren kleinen Kreis eigentlich nicht würdig genug. Madame de Cambremer-Legrandin, die angeheiratete Schwiegertochter der Chopin-Liebhaberin Madame de Cambremer, ist wiederum nur sehr unwillig mit von der Partie, denn für sie sind die Verdurins unter ihrem Niveau: » Sie trat hochmütig und mürrisch mit der Miene einer großen Dame ein, deren Schloß im Verlauf eines Krieges von Feinden besetzt worden ist, die sich aber gleichwohl darin zu Hause fühlt und den Siegern zu zeigen gedenkt, daß sie Eindringlinge sind. « Die Begegnung von Vermietern und Untermietern fühlt sich für beide Seiten seltsam an. Madame de Cambremer beschäftigt sich damit, » die Veränderungen festzustellen, welche die Verdurins in La Raspelière vorgenommen hatten, damit sie die einen kritisieren, andere davon in Féterne einführen, vielleicht auch angesichts der gleichen alles beides tun könne «.
Charlus wird neben Cottard plaziert, und Cottard zwinkert ihm zu, um das Eis zu brechen. » Der Baron, der sehr leicht überall seinesgleichen vermutete, zweifelte nicht, daß Cottard einer davon sei und ihm schöne Augen zu machen versuche. Sofort legte er dem Professor gegenüber die Härte des Invertierten an den Tag, der ebenso verachtungsvoll denjenigen entgegentritt, denen er selbst gefällt, wie er sich eifersüchtig um die anderen bemüht, welche ihm gefallen. « Das ist zwar eigentlich ein Klischee, aber Proust muß es ja wissen.
» Zweifellos ist es, obwohl jeder heuchlerisch von der immer vom Schicksal verwehrten Wohltat des Geliebtwerdens spricht, dennoch ein allgemeines Gesetz, dessen Herrschaft sich keineswegs auf Leute wie Monsieur de Charlus beschränkt, daß uns ein Wesen, das wir selbst nicht lieben, welches aber uns liebt, unerträglich erscheint. « Wir ziehen solch einer Frau » die Gesellschaft jeder beliebigen anderen vor, auch wenn sie weder deren Charme noch ihre angenehmen Umgangsformen, noch ihren Geist besitzt «. Und da uns in der Regel die charmanten, angenehmen und geistvollen Frauen lieben, sind wir dazu verurteilt, unsere Zeit mit unausstehlichen Schnepfen zu verbringen.
Madame de Cambremer vertieft sich auf ihrem Wohnsitz Féterne übrigens in immer esoterischere Philosophie und in immer schwierigere Musik. Sie setzt » in dem Maße, wie ihr Glaube an die Realität der Außenwelt abnahm, ein immer leidenschaftlicheres Bemühen daran, sich vor ihrem Tode in dieser letzteren noch eine gute Stellung zu sichern «. Und einen Platz in »Sodom und Gomorra« hat sie sich ja immerhin gesichert.
Unklares Inventar:
– Ein Beschließer, Chintzbezüge, Araukarien, Hauswurz, Barbedienne-Bronzen.
Verlorene Praxis:
– Sich des öfteren einen Scherz erlauben, durch den man, gleichzeitig bescheiden und schlagfertig, seine Unwissenheit bekennt und sein Wissen dartut.
– Zur Begrüßung zwei Finger ausstrecken.
– In einem Urlaubsort auf jemanden, der unter den vielen Touristen, die seine Kreise nicht kennen, zu ersticken meint, wie ein Riechsalzflakon wirken.
– In dem Bewußtsein, eine einem selbst geistig überlegene Frau geheiratet zu haben, sehr wenig sprechen.
– In seinem Schloß im Osten Frankreichs von der Invasion überrascht werden und » vier Wochen lang den Kontakt mit den Deutschen ertragen müssen «.
– Als vollkommene Gastgeberin an allen Unterhaltungen gleichzeitig teilnehmen.
109 . Mo, 6.11., Berlin
Andere verreisen, um eine unglückliche Liebe zu vergessen, das geht für mich zeitlich und emotional nicht mehr. Aber bei Wohlthats gab es Gustav Fischers
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