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Schmidt Liest Proust

Schmidt Liest Proust

Titel: Schmidt Liest Proust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Schmidt
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gelungenen Spruch anbringt, dann wird er des Plagiats beschuldigt, weil die Runde diesen Spruch bereits aus dem Mund eines anderen kennt, dem er ihn früher einmal verraten hatte.
    Schließlich wird Elstirs gedacht, der dem »kleinen Kreis« früher einmal angehört hatte, dessen Heirat mit einer von ihr als unwürdig erachteten Frau Madame Verdurin nicht verhindern konnte und der seitdem als abtrünnig gilt. Im übrigen habe er sein Talent an Riesenschinken verschleudert, sagt sie. Schon damals war er damit negativ aufgefallen, daß er Cottard mit lila Haaren porträtiert hatte.
    Die Frage des Abends ist, ob Charlus oder Monsieur de Cambremer an der Hand des Hausherren zu Tisch gehen soll, wer also vom Rang her der erste Ehrengast ist. Charlus betont mit scheinheiliger Bescheidenheit, daß es doch keine Bedeutung habe, wenn er nach Monsieur de Cambremer plaziert worden sei: » Er hängte ein kleines Lachen an, das eine Besonderheit von ihm war – ein Lachen, das wahrscheinlich von irgendeiner bayerischen oder lothringischen Großmutter stammte, welche es in ganz der gleichen Form von einer Ahnin übernommen hatte, so daß es dergestalt unverändert seit vielen Jahrhunderten an alten kleinen Höfen Europas aufgeklungen war und man seinen kostbaren Ton wie den gewisser, überaus selten gewordener alter Instrumente genoß. Es gibt Fälle, in denen zur Vervollständigung der Personenbeschreibung eine phonetische Wiedergabe unerläßlich wäre. « Oder der Link zu einer Sound-Datei.
    Unklares Inventar:
    – Odeonien, Pikettpartie, Toile-de-Jouy-Bezüge.
    Verlorene Praxis:
    – Sich » an verworrenen Reminiszenzen « berauschen.
    Selbständig lebensfähige Sentenz:
    – » Fast jede Neuigkeit, die wir erfahren, bewirkt, daß wir irgendeine unserer Äußerungen bedauern. «
    – » Er weiß zuviel, er langweilt mich. «
    110 . Di, 7.11., Berlin
    Als ich einmal in Petersburg über eine Newa-Brücke ging, strich ich mir durchs Haar und hatte plötzlich einen Angelhaken in der Hand. Es war auch noch ein bißchen Sehne dran. Ich konnte mir nicht erklären, wie der Haken auf meinen Kopf gekommen war. Ich konnte bisher auch niemandem davon erzählen, die Beobachtung paßte einfach in kein Gespräch.
    Sodom und Gomorra, S. 435–456
    Es gibt also eine » Regel der drei Adjektive «, wenn man einem lobenden Adjektiv zwei weitere folgen läßt. Bei Madame de Cambremer bilden diese Adjektive ungewöhnlicherweise keine Steigerung, sondern ein Diminuendo. Wenn Marcel zum Abendessen komme, werde sie » ›entzückt – glücklich – zufrieden‹« sein, schreibt sie. Ein Adjektiv mehr, vermutet er, und von der Eingangsliebenswürdigkeit würde nichts mehr übrigbleiben.
    Charlus spricht sich ganz freundlich über Kaiser Wilhelm aus, diesen » Edelmann letzten Ranges «. Allerdings verstehe er nichts von Malerei und habe » Herrn Tschudi angewiesen, die Elstirs aus den nationalen Museen zu entfernen «. Das ist nun eine eigenartige Vermischung von Fiktion und Realität, weil es doch keinen Herrn Elstir gibt, aber einen Herrn Tschudi. Außerdem ist der Vorgang ja nachprüfbar. Man kann aber als Autor nicht erwarten, daß der Leser deshalb den fiktiven Maler für echter halten würde. Wenn Proust konsequent wäre, müßte er zu Balbec, Elstir, Combray, Bergotte, Vinteuil und Charlus eigentlich auch einen eigenen deutschen Kaiser für seinen Roman erfinden.
    Korrekterweise dürfte man ja die ganze Zeit nicht »Marcel« sagen, der Name ist bis jetzt noch nicht gefallen. Aber mein Ich und das meiner Figuren sind doch in gleichem Maß fiktiv. Es irritiert, wenn der Erzähler behauptet, er könne » heute « nicht sagen, wie Madame Verdurin » an jenem Abend « gekleidet war, » über Beobachtungsgabe verfüge ich nicht «. Ist das kokett?
    Madame Cottard erliegt, mitten im Raum sitzend, der » unweigerlich bei ihr auftretenden Wirkung der Stunde nach dem Essen « und überläßt sich nach vergeblichem Widerstand einem leichten Schlummer. » Sei es, daß ein Wille, dem Schlaf zu widerstehen, bei Madame Cottard weiterbestand, sogar wenn sie schlief, sei es, daß der Fauteuil nicht genügend Stütze für ihren Kopf bot, jedenfalls schaukelte dieser mechanisch von links nach rechts und von oben nach unten im Leeren wie ein willenloses Objekt, und derart schwankenden Hauptes erweckte Madame Cottard bald den Eindruck, sie höre eine musikalische Darbietung an, bald aber, sie befinde sich in der letzten Phase der Agonie. « Dieses Schwanken, das

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