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Schmidt Liest Proust

Schmidt Liest Proust

Titel: Schmidt Liest Proust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Schmidt
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Cottard sagt, er lasse sich » zu sehr von Gefühlen beherrschen «, und es würde ihm » guttun, Beruhigungsmittel einzunehmen « oder sich » mit Stricken zu beschäftigen «. Man stutzt etwas, wenn Marcel plötzlich behauptet: » Ich liebte die Verdurins. «
    Madame Verdurin leidet nicht nur an » den unvermeidlichen Verheerungen des Alters «, zudem hat die Musik, die ja im Mittelpunkt ihrer Salons steht, ihren Gesichtsausdruck zu einer dauerhaft überwältigten Miene geformt: » Unter der Einwirkung der zahllosen Neuralgien, deren Ursache jeweils die Musik von Bach, von Wagner, von Vinteuil, von Debussy gewesen war, hatte die Stirn von Madame Verdurin enorme Proportionen angenommen wie Glieder, die der Rheumatismus schließlich deformiert. « Das Ergebnis ist ein » grandios verwüstetes Antlitz «.
    Der »kleine Kreis« ist eine Institution zur Verdrängung des Todes. Das Verscheiden selbst der langjährigsten Getreuen wird übergangen, da diese ja nicht mehr teilnehmen können und man sie mit Worten auch nicht wieder lebendig macht. Ein anderer natürlicher Feind des »kleinen Kreises«, den Madame Verdurin bekämpft, ist die Familie mit ihren irrationalen und nicht durch individuelle Wahl geknüpften Banden.
    Der neue Stern bei den Verdurins ist Charles Morel, Violonist und Sohn eines Dieners von Marcels Onkel. Auch er scheint mit Charlus ein Verhältnis zu haben. Jedenfalls benimmt er sich Marcel gegenüber eigenartig, was diesem aber nichts ausmacht, da er » Vergnügen an der Vielfalt der Menschen fand, ohne etwas von ihnen zu erwarten oder ihnen deswegen böse zu sein «. Im Idealfall erreicht man als Autor dieses Niveau von Gelassenheit, man steht dann nur noch in der Ecke wie diese Luftfeuchtigkeitsmeßgeräte in Museen und registriert ganz emotionslos die Stimmungsschwankungen anderer.
    Unklares Inventar:
    – Camyeumalerei.
    Katalog kommunikativer Knackpunkte:
    – Er war ein Bursche » mit einem jener melancholischen Gesichter, deren allzu starker Blick darauf hinweist, daß sie sich um ein Nichts furchtbar grämen, ja in Schwermut verfallen können «.
    Verlorene Praxis:
    – Weil es einen langweilt, über einen Todesfall zu sprechen, so tun, als sei man so erschüttert davon, daß man aus gesundheitlichen Gründen nicht darüber sprechen könne.
    – Als Klaviervirtuose Freund Hein mit einem Triller begrüßen.
    – Als Hausherr einen Gast, der keine Tischdame hat, scherzhaft unter den Arm fassen.
    – Jemanden im Theater lorgnieren und ihn beim Inhaber des Nachbarfauteuils verleumden.
    Heilsame Praxis:
    – » […] sich von der Schönheit eher umspülen zu lassen, als daraus ein tiefergehendes Anliegen zu machen. «
    Selbständig lebensfähige Sentenz:
    – » Wenn die Medizin nicht wirklich zu heilen vermag, gibt sie sich damit ab, den Sinn der Verben und Pronomina abzuwandeln. «
    108 . So, 5.11., Berlin
    Seit ich vor sieben Jahren dort selbst einen guten Tag hatte, sehe ich mir manchmal den jährlichen Open-Mike-Literaturwettbewerb an, um mich ein wenig in dem Gefühl zu sonnen, ihn schon gewonnen zu haben. Ich bin natürlich immer enttäuscht, daß ich es in den Presseankündigungen, die sie vorher verschicken, nie in die Aufzählung der ehemaligen Preisträger schaffe, geschweige denn einmal für die Jury eingeladen werde. Wahrscheinlich gibt es solche Sehnsüchte in jedem Beruf, und auch der russische Zollbeamte, der einen extra lange warten läßt, will nur beachtet werden. Nur daß es nicht viel bringen würde, wenn ich die Leser extra lange auf meine Texte warten lassen würde. Man braucht ein wenig Anerkennung, selbst der Mann von der freiwilligen Feuerwehr träumt von einem zusätzlichen Pickel auf seinem Schulterstück. Wenn Autoren Schulterstücke tragen würden, wäre meins vermutlich noch ganz glatt, und ich müßte immer für die anderen das Klo schrubben.
    In diesem Jahr fand der Open-Mike in der Wabe am Thälmannpark statt, wo gleich Erinnerungen an ganz verschiedene Epochen hochkamen. Tiefster Osten, weil dort Bands auftreten, von denen man gar nicht wußte, daß es sie noch gibt. Und in den Neunzigern habe ich hier einmal mit Deborah Salsa getanzt, wir hatten den großen Saal für uns und konnten die Schritte nicht, aber sie hat sich immer so schön herumwirbeln lassen. Im letzten Herbst habe ich hier die Choreographin Sommer Ulrickson bei den Proben zu einer neuen Inszenierung begleiten dürfen. Ich bin immer zu spät gekommen, war erkältet und hatte Angst vor den

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