Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schmidt Liest Proust

Schmidt Liest Proust

Titel: Schmidt Liest Proust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Schmidt
Vom Netzwerk:
ich in der S-Bahn so oft bei anderen beobachtet habe, wenn sie in den Mittelgang zu kippen drohten, sich aber ohne aufzuwachen immer wieder aufrichteten. Ich bin selbst so müde, wenn ich jetzt auch noch über Müdigkeit nachdenken soll, schaffe ich mein Seneca-Pensum für morgen nicht mehr, und ich will doch meinen Ruf als Streber festigen, jetzt, wo ich nicht mehr darauf angewiesen bin, bei meinen Mitschülern beliebt zu sein, sondern so viele Freunde im Internet habe.
    Unklares Inventar:
    – Affäre Eulenburg, die Ingalli, Trional.
    Katalog kommunikativer Knackpunkte:
    – Jemandem » den rasch wieder abgewendeten Blick eines Kurzsichtigen und eines Philosophen « zuwerfen.
    – Verstohlen einen Blick gleiten lassen, » den ein Redner heimlich jemandem spendet, der in einer Versammlung sitzt und dessen Name er gerade zitiert «.
    Verlorene Praxis:
    – Anderen fossil vorkommen.
    – Zu jemandem mit Vorreitern mit erhobenem Stab anreisen.
    – In der gleichen Art wie gute Parlamentsredner niemals auf einen Zwischenruf antworten.
    111 . Do, 9.11., Berlin
    Sollte man am Geburtstag einfach aufs Dach steigen und nicht mehr mit dem Psychologen reden, bis das Urteil gegen einen aufgehoben wird? Wie immer kamen gleich morgens mit der Post die ersten Glückwünsche vom Sparkassenberater, aber auch web.de ließ sich nicht lumpen: »Als kleine Überraschung möchten wir Sie einladen, 3 Monate lang alle Vorteile des WEB.DE Club zu genießen: Premium E-Mail, exklusive Funktionen, Sicherheitspaket und vieles mehr.« Aber wenn man auf »Überraschung auspacken« klickt, mußte man die Nutzungsbedingungen für das Geschenk akzeptieren, bevor man überhaupt erfuhr, wie es aussah.
    Der traditionelle Anruf des Ahnungslosen kam diesmal von einem Redakteur. Er riet mir, kein Staatsbegräbnis anzustreben, sonst würde ich nie eines bekommen. Ich weiß nicht, wieso ich mit allen immer gleich auf dieses Thema zu sprechen komme. Neu war in diesem Jahr der eiskalte Regen, der mich auf dem Fahrrad erwischte. Dafür wußte ich bei Latein den PPP-Abl.abs. von »Sole occidente«. Wenn ich mich statt in die Uni in die Vorschule setzen würde, hätte ich noch viel mehr solcher Erfolgserlebnisse. Leider driften irgendwann im Leben die Ansprüche, die an einen gestellt werden, und die Fähigkeiten, die man hat, auseinander, man müßte sich mal wieder an der richtigen Stelle eintakten.
    Meine Mutter hat gefragt, ob ich denn ein Grammophon hätte, sie meinte einen Plattenspieler. Ich hatte nämlich erzählt, daß ich mit ihrer Enkelin unsere alte »Der Wolf und die sieben Geißlein«-Platte gehört habe. Wir haben damals immer den Schluß hören wollen, wo die Geißlein singen: »Der Wolf ist tot, der Wolf ist tot, määääh!« Was in der Erinnerung ein längerer Spottgesang ist, war in Wirklichkeit ein rasch ausgeblendetes leises Meckern. Außerdem identifiziere ich mich inzwischen natürlich mit dem Wolf. Trotzdem ist es eine hervorragende Platte, die heute zu Unrecht kaum noch gespielt wird. Der Sprecher ist Joseph Offenbach, der Vater aus »Die Unverbesserlichen«. Rätselhaft, daß man einen Text, in den man ja kaum seine tiefsten Gefühle legen kann, so mitreißend sprechen kann. Vielleicht ist es auch nur seine Stimme, die man gerne hört, und der Schauspieler muß gar nichts machen.
    Am Morgen einen Bekannten auf dem Fahrrad gesehen und nicht angesprochen. Er war mal ein Idol, weil er Malerei studierte, jetzt programmiert er Webseiten und ist damit viel glücklicher, weil es besser bezahlt ist. Die Fähigkeit, Menschen zu idealisieren, nimmt im Alter ab. Beim Zeitunglesen überlegt, ob ich meinen Geburtstag dazu nutzen sollte, mal die US-Bundesstaaten auswendig zu lernen, das wäre wenigstens etwas Konkretes und an einem Tag zu schaffen. Auf der Post stellte sich die Frage: Pritt oder Uhu? Warum können zwei identische Produkte auf demselben Markt überleben? Irgendwie war ich den ganzen Tag über zittrig, weil meine Tochter morgens geschrien hatte, ich hatte den Turm nicht noch mal bauen wollen, den sie eingerissen hatte: »Ich kann das nicht!« sagt sie immer, ohne es überhaupt probiert zu haben. »Sie will, daß du dich mit ihr beschäftigst«, erklärt man mir. Aber es wäre doch viel effektiver, nett zu mir zu sein, als mich gleich morgens anzuschreien. Die nächste Frau, die zu mir sagt: »Was rumpelt und pumpelt in meinem Bauch herum?« schmeiße ich in einen Brunnen.
    Sodom und Gomorra, S. 456–477
    Als Madame Cottard wieder

Weitere Kostenlose Bücher