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Schmidt Liest Proust

Schmidt Liest Proust

Titel: Schmidt Liest Proust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Schmidt
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aufwacht, streicht sie sich mit der Hand über die Stirn, mit » der Geschicklichkeit einer Frau, die ihr Haar wieder ordnet «. Sie ist bemüht, die Peinlichkeit, eingenickt zu sein, zu entschuldigen: » Ihr Lächeln aber wurde schnell traurig, denn der Professor, der wußte, daß seine Frau ihm zu gefallen suchte und zitterte, es möge ihr nicht gelingen, rief ihr soeben zu: ›Sieh dich nur im Spiegel an, du bist so rot, als littest du an einem Ausbruch von Akne, du siehst aus wie eine alte Bäuerin.‹« Madame Verdurin verbucht das unter » schalkhafter Gutmütigkeit «. Ein trauriges Bild, solche Eheleute, und irgendwie wurde einem davon ja schon immer die Lust aufs Zusammenleben genommen.
    Viel hat die Schlafende nicht verpasst, höchstens Gespräche darüber, was so alles in Familienwappen vorkommen kann: Wiederkreuze, Fasces, Wechselzinnen, Kleeblattschnitt, fußgespitzter Pfahl, Hermelin.
    Die Herren spielen Écarté. Charlus versucht, Morel, » da er es mit der Hand nicht konnte, mit Worten zu berühren, die ihn gleichsam abtasteten «. Cottard macht fade Wortspiele. Madame Verdurin möchte Marcel vom Besuch bei den Cambremers in Féterne abhalten. Lungenentzündung und dauerhaften Rheumatismus würde er riskieren, und die Luft sei dort nicht gut für seine Erstickungsanfälle. Alles aus Angst, man könne sie versetzen. Deshalb rät sie auch Charlus ab, in Rivebelle zu essen. Von dem » Dreckzeug «, das sie einem dort als » galette normande « vorsetzten, habe ein armes Mädchen eine Bauchfellentzündung bekommen und sei innerhalb von drei Tagen gestorben.
    Beim Abschied ist der norwegische Philosoph, wie angekündigt, spurlos verschwunden, vielleicht von einem » Aeroplan entführt « oder » auf übernatürliche Weise in den Himmel entrückt « oder er hatte wieder » einen Kolikanfall «.
    Das alles berührt mich weniger, als daß Marcel sich eine Seite lang darüber ärgert, daß Madame de Cambremer d.J. Saint-Loup » Saint Loupp « ausspricht, mit hörbarem p am Ende.
    Unklares Inventar:
    – Siele.
    Katalog kommunikativer Knackpunkte:
    – » ›Bleiben Sie noch einige Zeit in dieser Gegend, Madame?‹ fragte Monsieur de Cambremer Madame Cottard, was als eine unbestimmte Absicht, sie einzuladen, gelten konnte, aber für den Augenblick eine präzisere Form der Verabredung überflüssig machte. «
    112 . Fr, 10.11., Berlin
    In der Urania in Westberlin bei einem bunten Revue-Nachmittag für Senioren. Der Saal ist auch am zehnten Tag hintereinander bis auf den letzten Platz ausverkauft. Nirgends wurde die Veranstaltung angekündigt, es läuft alles über die Bezirksämter, eine richtige Subkultur. Den Conférencier kennt man irgendwie von Fernsehabenden aus der Kindheit, aber sicher ist man nicht. Es sei schon die 248. Ausgabe dieser bunten Nachmittage. Das Publikum lacht herzlich, sobald es schlüpfrig wird. Es sind ja Individuen, aber als Rentner ist man doch in der Wahrnehmung ein Kollektivwesen, genau wie Jugendliche. Die Band lädt ein zu »einer kleinen musikalischen Reise um die Welt«, und wenn man ehrlich ist, geht die Musik sogar in die Beine. »Im Sommer scheint die Sonne und im Winter da schneit‘s, in der Schweiz, in der Schweiz, in der Schweiz.« Alle anderen kennen den Text, ich fühle mich ausgeschlossen. Was werde ich hier in fünfzig Jahren mit meinen Altersgenossen singen? Oder auch: »Das ist Berlin, Berlin, Berlin … genau im Mittelpunkt der Welt, hat dich der Herrgott hingestellt«?
    Der Conférencier zitiert Jean Paul: »Erinnerungen sind das einzige Paradies, aus dem man nicht vertrieben werden kann.« Wer solche Sprüche klopft, hat es verdient, bis ans Ende aller Tage in Rentner-Variétés zitiert zu werden. Zustimmendes Raunen, die gehbehinderte Oma neben mir, die unförmig wie eine Qualle in ihrem Sessel zerfließt, sagt: »Ditt stimmt.« An welche Paradiese sie wohl dabei denkt?
    Chris Howland, der als »cleverer englishman« angekündigt wurde, singt: »Dann hau ich mit dem Hämmerchen mein Sparschwein kaputt.« Wieder kenne ich den Text nicht. ’48 sei er nach Deutschland gekommen und habe hier eine phantastische Erfindung entdeckt, über die man überall in der Welt spreche. »Kennen Sie nicht?« Jemand ruft: »Arbeit!«, aber er meinte »Das deutsche Fräulein«, von dem sein nächstes Lied handelt. Danach wieder Scherze: An den Euro könne man sich nicht gewöhnen, das Kleingeld sei so schwer, »das hängt so tief in meiner Hose. Nein, gnädige Frau, nicht, was sie

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