Schmidt Liest Proust
mit Sojamilch, Kaffee, Ciceros »Cato maior de senectute«, die ersten fünf Absätze. (So langsam, wie das geht, werde ich noch bis zu meiner eigenen senectus dafür brauchen.) Schnell zur Uni, wo vier Stunden Latein rascher vergehen, als in der Schule fünfundvierzig Minuten irgendeines anderen Fachs. Warum konnten sie nicht schon damals versuchen, den Unterricht so zu gestalten, daß man gerne lernte? Ich habe zwölf Jahre Lebenszeit darauf verschwendet, mich zu drücken. Immer hat man im Unterricht heimlich die Hausaufgaben für die nächste Stunde gemacht. Ich war meine ganze Schulzeit genau eine Stunde hinterher. »Hoc enim onere te levari volo«, Ablativus separationis erkannt, was für ein Glücksgefühl!
Bei Dussmann nun doch Jason Lutes »Berlin«, Huysmans »Ganz unten« und einen »Texte und Übungen«-Band Latein, sicher besser als die Lehrbücher aus der Nazizeit, die ich bisher immer benutze. Einer dieser Momente, in denen man denkt, daß man vollkommen glücklich wäre mit nichts als Lektüren und Sprachstudien. Im Nieselregen nach Hause geradelt. Immer eine Art Kontrollgang, welche meiner Erinnerungsorte noch existieren und welche der geistlosen Bautätigkeit zum Opfer gefallen sind. Während ich den Rest von diesem griechischen Fertigteller von Extra esse, Proust zu übertragen versucht, aber ich kann nicht gleichzeitig essen und tippen. Schokolade wäre da praktischer, wie Luhmann sagt, denn dabei könne man umblättern.
Fußball in der »Bornholmer Hütte«, Kartoffelsalat, Boulette, Kaffee »weiß«. In der Pause die Berliner Zeitung überfliegen. (Wieder dieser Koch, der Gemüse geliert und Kaviar in rohe Eier spritzt. Sein Restaurant bekommt jährlich zwei Millionen Anmeldungen. Ich bin immer neidisch auf Menschen, die ihr Leben so konsequent einer Sache opfern.) Daß der 11.11. ist, merkt man an den langen Nasen, die sich manche Kneipengäste aufgesetzt haben. Als ich nach dem Spiel rausgehe, sehe ich draußen einen Opa, der sich langsam der Kneipe nähert. Wollen wir hoffen, daß er nicht vorhatte, es noch zum Anpfiff zu schaffen.
Einkaufen, was braucht man für eine Kartoffelsuppe? Wieviel von den Stier-Untersetzern, die es zum Osborne-Rioja gibt, habe ich schon? Kurze Neidattacke, weil im tip eine Kollegin, die »schon zweimal zu Lesungen dorthin eingeladen war«, über Bukarest schreiben darf. Zu verkünden, daß Rumänisch den anderen romanischen Sprachen ähnele, hätte ich mich nicht getraut. Es sei sogar dem Latein am ähnlichsten. Der Trick ist, ausreichend unreflektiert zu sein, dann bringt man es auch zu etwas. Sicher arbeitet sie schon an einem Rumänien-Roman, während meiner dieses Jahr abgelehnt wurde.
Beim Kassenroulette ein seltener Volltreffer, denn die, an der ich stehe, wird hinter mir zugemacht, ich muß mich also mit dem Einpacken nicht so beeilen wie sonst. Die Verkäuferin mit der tiefen Stimme ist wohl doch eine Frau, ich werde das weiter beobachten. Meinen Bon von der Flaschenannahme wieder einzulösen vergessen. Zu Hause Texte für das »Kantinenlesen« raussuchen. Schnell den Proust-Beitrag durchgehen und das hier schreiben.
Sodom und Gomorra, S. 498–519
Das Auto, dieser » Riese in Siebenmeilenstiefeln «, erlaubt es einem, mehrere Ausflugsziele an einem Tag zu schaffen: » Es wurde uns klar, als der Wagen in einem Ruck zwanzig Schritte eines ausgezeichneten Pferdes zurücklegte. « Wenn Punkte, die früher für sich existierten, in dieser Weise zusammenrücken, was bedeutet dann noch Entfernung? Die verschiedensten Orte gruppieren ihre Türme » rings um unseren Nachmittagstee «. Und was ist dann eine Stadt? Von Buch nach Zehlendorf braucht man mit der S-Bahn länger als von Brest nach Quimper oder Morlaix. Die Landschaft dazwischen ist eigentlich eine Art Park.
Die Verdurins zwingen ihre Gäste nach Likören und Zigaretten zu Ausflügen, » ungeachtet der durch Hitze und Verdauungstätigkeit erzeugten Schläfrigkeit «. An allen Aussichtspunkten steht eine Bank, bis hin zur letzten, » von der aus man die ganze Rundsicht über das Meer beherrschte «. (Wo außerdem der meiste Müll herumliegt und man aufpassen muß, daß man nicht in die Haufen und Klopapierreste der anderen Touristen tritt.)
Das Land stellt einen veränderten Rahmen dar, in dem flüchtige Bekannte, denen man in Paris ausweichen würde, plötzlich unterhaltsam erscheinen und schäbige Jagdwagen das Herz derer, die in Paris edle Gespanne fahren, höher schlagen lassen. Alles, was » die
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