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Schmidt Liest Proust

Schmidt Liest Proust

Titel: Schmidt Liest Proust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Schmidt
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hätte zehren können «. Zu Hause findet er ein Telegramm von ihr vor, das sie von unterwegs geschrieben hat (»Telegramm« klingt auch besser als »SMS«), und er sagt sich, daß sie sich doch wohl lieben müssen, wenn sie die ganze Nacht mit Küssen zubringen. Aber weiß man’s?
    Wenn da nicht ihr Antlitz wäre, das » das Rätsel ihrer Absichten barg «, all ihre Pläne, von denen er ausgeschlossen ist. » Ohne ein Datum dafür festzulegen, wünschte ich, daß dies Leben ein Ende hätte. « Wenn man kein Datum setzt, kann man natürlich getrost davon ausgehen, daß sich dieser Wunsch auch erfüllen wird.
    Aus einem Fluchtbedürfnis reitet er einen Wildpfad. Die Felsen erinnern ihn an Elstirs Aquarelle: » Dichter einer Muse begegnend « (was schon hinreißend genug wäre als Bildtitel) und » Junger Mann einem Zentauren begegnend « (was zugegebenermaßen sogar noch etwas neugieriger macht). » Plötzlich scheute mein Pferd. « Er hebt seine » tränenerfüllten Blicke « zur Sonne und sieht ein Flugzeug: » Ich war tiefbewegt, wie es ein Grieche gewesen sein mag, der zum ersten Mal einen Halbgott erblickte. Ich weinte, denn ich war schon in dem Augenblick, als ich das Geräusch über meinem Kopf wahrnahm – Aeroplane waren noch selten in jenen Tagen –, bei dem großen Gedanken zum Weinen bereit, daß das Wesen, das ich zum ersten Mal sehen würde, ein Aeroplan sein müsse. « So wie ich geweint habe, als ich zum ersten Mal eine externe Festplatte gesehen habe. Technische Neuerungen sollten viel öfter mit Tränen begrüßt werden.
    Er beneidet den Piloten, weil vor ihm » alle Straßen des Weltenraumes, des Lebens offenlagen «. Minutenlang kreist das Flugzeug wie unentschlossen über ihm und steigt dann senkrecht zum Himmel empor.
    Katalog kommunikativer Knackpunkte:
    – » Doch jedesmal, wenn sie sich seit dem Tode meiner Großmutter so weit vergaß, daß sie lachte, stockte dies Lachen, gleich nachdem es eingesetzt hatte, und endete in einem fast schluchzenden Ausdruck der Qual. «
    Verlorene Praxis:
    – Sich beruhigende Kompressen aufs Herz legen.
    – Sich, um ihrer Vorliebe für den Reitsport zu genügen, mit Mietpferden behelfen.
    Selbständig lebensfähige Sentenz:
    – » Mir scheint, du könntest auch jemand Besseren zum Freund haben als einen Automechaniker.«
    115 . Mo 13.11., , Berlin
    Ende der Woche beginnt das achte Balkan-Black-Box-Festival, und ich soll für die taz darüber schreiben, wovon ich früher als deren Abonnent nicht zu träumen gewagt hätte. Vor zwei Jahren habe ich mich viele Monate fast ausschließlich mit Jugoslawien und den Jugoslawienkriegen beschäftigt. Ähnliche Phasen gab es mit Bulgarien und Rumänien. Mit einem Festival zu tun zu haben, das die ganze Region abdeckt, sollte mich glücklich machen, alleine schon die Gelegenheit, Gleichgesinnte kennenzulernen. Ich habe damals sogar einmal vor dem Kino »Babylon« ganz nahe neben den Organisatoren gestanden, mich aber nicht getraut, sie anzusprechen.
    Jetzt habe ich einen Stapel kopierter DVDs mit Filmen und Dokus aus Bosnien, Serbien und Bulgarien bekommen, die auf dem Festival laufen werden und die ich für den Artikel ansehen will. Vor zwei Jahren habe ich ganze Tage in der Uni-Mediothek vor einem kleinen Fernseher gesessen, mir Dokus zum Balkankrieg und alte jugoslawische Spielfilme angesehen und Notizen gemacht. Jetzt bekomme ich sie mit der Post geliefert und müßte sie nur einlegen, aber alles in mir sträubt sich dagegen anzufangen. Es war immer so: Sobald eine Arbeit nicht mehr freiwillig war, begann man, sie aufzuschieben. Auch wenn der serbische Spielfilm schwach sein sollte, spielt er doch genau zu der Jahreszeit in Belgrad, zu der ich auch dort war, und man sieht dieses eigenartige Genex-Hochhaus in Neu-Belgrad im Winternebel stehen. Und dann gibt es eine autobiographische Doku eines Filmemachers aus Sarajevo, in der er über seine Kindheit und Jugend unter Tito nachdenkt. Es gibt auch einen Film über die Initiatoren des weltweit ersten Bruce-Lee-Denkmals in Mostar und über ein interaktives Computerspiel »Balkan Wars«, bei dem der Krieg nachgespielt werden kann. Nichts wäre leichter, als sich die Filme anzusehen und ein bißchen mitzuschreiben. Aber ich könnte vorher auch nochmal meine Mails checken und gucken, ob es endlich ein »Schmidt liest Proust«-Beitrag vom November in die Top 25 der meistangeklickten Seiten dieses Blogs geschafft hat. Das werde ich jetzt auch tun und mit den Filmen morgen

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