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Schmidt Liest Proust

Schmidt Liest Proust

Titel: Schmidt Liest Proust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Schmidt
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Öde solcher allzu isolierten Daseinsformen unterbricht, in denen sogar die Stunde, wenn der Briefträger kommt, zu einer Annehmlichkeit wird «. Umgekehrt muß man befürchten, daß einem eine Madame Bovary, wenn man ihr außerhalb eines Romans begegnen würde, vielleicht » wie alle übrigen auch « erschiene.
    Für Schiffahrt und Eisenbahn bedarf es des Bahnhofs, » jener großen Wohnung, welche niemand bewohnt und die von der Stadt nur den Namen hat «. Mit dem Automobil kommt jeder an, wo er will. » Aber die Kompensation für ein so geheimnisloses Eindringen bilden auf der anderen Seite die tastenden Bemühungen sogar des Chauffeurs, der seines Weges nicht sicher ist und manchmal wieder umkehren muß «. Jede technische Neuerung entzaubert einerseits ein bißchen von der Welt und ermöglicht andererseits neue Erfahrungen.
    Charlus und Morel sitzen im Restaurant. Charlus möchte die drei verwelkten Rosen vom Tisch entfernt wissen. » ›Mögen Sie Rosen nicht?‹« fragt ihn Morel. » ›Ich würde durch das in Frage stehende Anliegen im Gegenteil beweisen, daß ich sie liebe, da das hier ja gar keine Rosen sind‹« , antwortet Charlus, der ein schwieriger Gast zu sein scheint. Auch den Schaumwein läßt er zurückgehen: » ›Dies ist ein Brechmittel mit dem Namen “cup”, bei dem gewöhnlich drei verweste Erdbeeren in einer Mischung aus Essig und Selterswasser schwimmen […]‹« . Er sollte sich vorsehen, Kritik hat dem Gast noch nie etwas gebracht, die Kellner sitzen am längeren Hebel und werden ihm in den Champagner spucken.
    Die beiden mutmaßen über Invertierte in ihrem Blickfeld, und Morel verrät seinen unmoralischen Traum, ein Mädchen zu entjungfern und ihm noch am gleichen Abend den Laufpaß zu geben, worauf Charlus sich nicht enthalten kann, » Morel zärtlich ins Ohr zu kneifen «. Schon die Vorstellung hat ihm » im Nu zu einem Gefühl vollkommener Lust verholfen «. Danach beruhigt sich seine sadistische Seite wieder und er kommt auf Höheres zu sprechen, Chopin und Beethoven.
    Dann versetzt er dem Selbstbewußtsein des Obers den Todesstoß, indem er eine Birne bestellt. Sie führen aber weder die » Doyenné des Comices « noch die » Triomphe de Jodoigne «, die » Virginie-Dallet « oder die » Passe-Colmar «. Nach der » Duchesse-d’Angoulême « muß er gar nicht fragen, die sei ja noch nicht reif. Da muß ich doch gleich damit protzen, schon oft »Josephine von Mechelen« gegessen zu haben.
    Während Albertine in der abgelegenen Kirche malt, die Marcel aber nur Genuß verschaffen könnte, wenn er allein wäre, fährt er mit dem Auto durch die Gegend. » Angeblich mit ganz etwas anderem beschäftigt und genötigt, sie zugunsten sonstiger Vergnügungen sich selbst zu überlassen, dachte ich gleichwohl nur an sie. « Und er stellt sich vor, wie dieselbe Meeresbrise, die ihn im Vorbeistreichen berührt, zu ihr gelangt und ihr das Antlitz umfächelt.
    Aber die Straßen, die zu ihr führen würden, erinnern ihn an frühere Straßen und Obsessionen, » daran, daß es mein Schicksal war, immer nur Phantome zu verfolgen, Wesen, deren Wirklichkeit zu einem guten Teil nur in meiner Einbildungskraft bestand «. Damit ist er ja schon sehr weit in seiner Selbsterkenntnis, ob es aus diesem Muster einen Ausweg gibt? Andernfalls passiert immer das gleiche. Wenn man ihr Freund geworden ist, hat man » nichts Eiligeres zu tun «, als an eine andere zu denken. Warum dann überhaupt der Aufwand, sie zu gewinnen? Der verstorbene Swann würde nicht so fragen. Wenn Marcel denkt, daß die Birnbäume und Büsche ihn überleben werden, » meinte ich von ihnen den Rat zu empfangen, mich endlich an die Arbeit zu machen, solange die Stunde der ewigen Ruhe noch nicht gekommen war «.
    Unklares Inventar:
    – Diplomatenschnittchen, » chemin de table « herstellen, Natterkopf, Coreopsis, Wattman, Stamati.
    Katalog kommunikativer Knackpunkte:
    – Eine jener » kollektiven und universalen Arten des Lächelns, welche bei Bedarf – so wie man die Eisenbahn oder für einen Umzug den Möbelwagen benutzt – alle Menschen verwenden «.
    Bewußtseinserweiterndes Bild:
    – » Wir fuhren ab und wurden einen Augenblick noch von den kleinen Häusern begleitet, die mitsamt ihrem Blumenschmuck an den Weg geeilt kamen. «
    114 . So, 12.11., Berlin
    Weil wir die Eltern zum ersten Mal seit Jahren überreden konnten, zu Weihnachten nach Berlin zu kommen, hat meine Mutter schon seit drei Tagen Migräne, es seien nämlich nur noch

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