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Schmidt Liest Proust

Schmidt Liest Proust

Titel: Schmidt Liest Proust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Schmidt
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vier Wochen, und sie müsse noch so viel einpacken. »Es sind sechs Wochen«, sage ich. »Für mich sind es vier.« Ihr Gepäck soll ja vom Gepäckdienst der Bahn abgeholt werden, aber das Ticket gelte doch erst ab dem 23.12., ob die das Gepäck dann auch einen Tag vorher holen würden? Am selben Tag, das wäre viel zu aufregend, falls sie nicht kommen. »Ruf doch mal an, ob sie das machen.« »Wir haben aber keine Zeit! Papa fährt im Januar zehn Tage nach Japan.« »Dann mach dir nicht jetzt schon Sorgen deswegen, sondern erst zwei Tage vorher.« »Ich hatte das ganze Wochenende Migräne.« »Soll ich mal anrufen?« »Papa will ja auch nur Handgepäck, damit wir nichts aufgeben müssen.« »Also hast du Migräne wegen einer Frage, die man mit einem Anruf klären könnte, und die überhaupt nicht relevant ist für euch?« »Ihr vergeßt immer, daß wir zweiundsiebzig sind.« Sie müsse noch so viel einpacken, die ganzen Medikamente. »Die kannst du doch auch hier kaufen, wenn du welche brauchst.« »Die gibt es doch in Berlin nicht.« »Aber das ist die Hauptstadt.« Im Januar fängt sie eine chinesische Kräuterbehandlung gegen ihre Migräne an, sechzig Euro die Sitzung. Akupunktur wirke nur ein Jahr. Bei Migränepatienten wolle »das Gehirn sich Luft verschaffen«. Am Wochenende hat sie nämlich schon wieder so viele Geschichten von anderen Leuten anhören müssen, die schwirren ihr dann immer alle im Kopf rum, wenn sie die Augen schließt. Es sei so unbequem, nach Berlin zu kommen, weil sie hier für alles verantwortlich sein würden. »Aber bei euch doch auch.« »Aber das ist was anderes. Außerdem die Treppen.« »Aber es gibt einen Fahrstuhl.« »Und wenn der kaputtgeht?« »Aber ihr seid doch gar nicht verantwortlich.« »Und dann ist nichts zu essen da.« »Dann ist eben nichts da.« »Wir schenken sowieso nicht viel, nur eine Kleinigkeit für die Enkel.« »Ich will aber nicht, daß die Enkel alles kriegen.« »Und ihr habt doch keinen Baumschmuck, ach, ich konnte schon wieder ab vier nicht schlafen.«
    Sodom und Gomorra, S. 519–540
    Marcel und Albertine sehen sich Kirchen an, ganz nebenbei wird die Information eingestreut, daß wir uns im zwanzigsten Jahrhundert befinden, gut zu wissen. Das » lässige Behagen «, das Albertines neuer Seidenschal ihr offensichtlich verschafft, findet er nicht ohne Anmut. Für Architektur entwickele sie erstaunlich schnell Geschmack, » im Gegensatz zu dem jammervollen, den sie in der Musik besaß «. Wie sich die Zeiten gleichen, der Mann klagt über den Musikgeschmack seiner Frau. Viel zu selten sucht man sich ja seine Partnerin nach ihrem Gebäudegeschmack aus.
    An einem Bauernwirtshaus wird gehalten, der Cidre aber im davor geparkten Auto getrunken (wenn mit » Zider « Cidre gemeint ist). Der Cidre spritzt sie voll, » die Flaschen brachten wir zurück «. Muß man in einem Roman erwähnen, daß man die Flaschen zurückgebracht hat? »Es war Winter, das Land war im Aufruhr, bald würde es Krieg geben, gleich morgens brachte ich die Flaschen zurück«.
    Der Alkohol bewirkt, daß Albertine sich an ihn drängt, blaß, » rot nur an den Jochbeinen unter den Augen, mit etwas Glühendem und Verwelktem dabei, wie es die Mädchen aus den Vorstädten haben «. Was ist das heutige Pendant zu diesen Mädchen aus den Vorstädten?
    Der arme Marcel: »Ich konnte Eifersucht sogar verspüren, wenn ich mich neben ihr befand. « Ein Kellner mit schwarzem Haar, » das wie eine Flamme emporzüngelte «, läuft mal näher, mal weiter entfernt durch ihr Blickfeld. » Die beiden sahen aus, als befänden sie sich in einem geheimnisvollen Zwiegespräch, das gleichwohl stumm verlief infolge meiner Anwesenheit und vielleicht bereits eine Fortsetzung früherer Begegnungen war, von denen ich nichts wußte, oder auch nur eines Blickes, den er ihr zugeworfen hatte, bei dem ich aber jedenfalls der störende Dritte war, vor dem man sich verbirgt. « Wieder überlegt er, ob der Augenblick nicht gut gewählt wäre, um endgültig auf sie zu verzichten.
    Seine Mutter würde ihn ja gerne zur Arbeit antreiben, aber allein die Ermahnung dazu versetzt ihn schon in solche Aufregung, daß sie ihn am Anfangen hindert, zu dem es aber auch nicht käme, wenn die Mutter schwiege. Keine leichte Ausgangssituation für einen Pädagogen.
    Kehrt er am frühen Morgen von Albertine zurück, ist er » noch immer ganz umwebt von der Gegenwart meiner Freundin, und mit einem Vorrat an Küssen bedacht, von dem ich noch lange

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