Schmidt Liest Proust
Féterne zu entführen, » wo eine ausgezeichnete Musikerin, die den ganzen Gluck singen würde, von einem berühmten Schachspieler abgelöst werden sollte, mit dem ich ausgezeichnete Partien spielen könnte «. Warum nur geben sich alle solche Mühe, Marcel zu sich einzuladen? Ist er besonders amüsant, charmant oder intelligent? Bis jetzt hat man als Leser davon nicht viel gemerkt, und doch reißt man sich um seine Gesellschaft. Eine Musikerin, die den ganzen Gluck singt, mit so etwas bin ich noch nie gelockt worden.
Der » herabziehende Einfluß « der Gegend um Balbec, die ihm jetzt vertraut und ein Zuhause ist, das er ringsherum von Freunden und Bekannten bewohnt weiß. » Die Atmosphäre dort weckte keine Ängste mehr, sondern war einzig mit menschlichen Emanationen erfüllt, leicht einzuatmen und zu beruhigend fast. « Das Kapitel endet mit dem Satz: » Eine Heirat mit Albertine kam mir jetzt wie eitel Torheit vor. « Aber es wird noch ein kurzes Kapitel folgen, das mit der Feststellung schließt: » [E]s geht nicht anders: ich heirate Albertine. « Den Schwankungen nach, denen seine Haltung in diesem Punkt unterliegt, werden die Kapitel irgendwann vielleicht nur noch einen Absatz lang sein und mit der jeweils sich widersprechenden Beteuerung enden.
Noch wartet er auf eine Gelegenheit zum endgültigen Bruch. Außerdem liebt er ja angeblich Andrée. Die will er allerdings auch nicht heiraten, weil er dann nicht mehr frei wäre, nach Venedig zu gehen. Im Zug bemüht er sich, grob zu Albertine zu sein, vielleicht werde er sie morgen versetzen, kündigt er an. Sie ist ihm nicht böse, » denn ich spüre, du bist nervös «. Am nächsten Tag wolle er sich von Madame Verdurin Auskunft über andere Kompositionen Vinteuils erbitten, von dem er nicht glaubt, daß Albertine ihn kennen könnte. Aber hier ist der Moment für eine fatale Wendung gekommen, die die »Recherche« um drei Bände verlängern wird: » Wir können alle nur möglichen Ideen in unserm Kopf haben, die Wahrheit hat sich nie in ihm Bahn gebrochen, aber von außen her, wenn man am wenigsten darauf gefaßt ist, versetzt sie uns ihren furchtbaren Streich, mit dem sie uns für immer verwundet. « Denn Albertine kennt nicht nur die Tochter Vinteuils, sondern hat auch mit deren Freundin eine Seereise unternommen und wird sie wiedersehen. Jetzt versteht der Leser endlich, warum wir im ersten Band Zeugen der lesbischen Szene in Vinteuils Haus geworden sind, denn diese Enthüllung dürfte Marcels Eifersucht befeuern, ist er doch ohnehin schon davon überzeugt, daß Albertines Neigungen nach Gomorra streben, und dort sind ihm als Mann bekanntlich die Hände gebunden.
Unklares Inventar:
– Lamoureux-Konzert.
Selbständig lebensfähige Sentenz:
– » […] daß die Gewohnheit so sehr unsere Zeit ausfüllt, daß uns nach ein paar Monaten kein freier Augenblick mehr in einer Stadt verbleibt, in der bei unserer Ankunft der Tag uns seine zwölf Stunden zur Verfügung hielt. «
120 . Mo, 20.11., Berlin
Der Brief kam vom SOS-Kinderdörfer-Fonds aus München: »Sehr geehrter Herr Schmidt, Weihnachten ist die Zeit, in der kein Mensch gerne alleine ist.«
Und da mußte ich lachen, weil sie mich so freundlich an mein Unglück erinnerten.
Sodom und Gomorra, S. 644–664 (Schluß)
Marcel hatte ja damals in Montjouvain die sadomasochistische Szene zwischen Vinteuils Tochter und ihrer Freundin durchs Fenster beobachtet und in seinem Gedächtnis verwahrt. Als Albertine nun beiläufig erwähnt, daß sie mit ebendieser Freundin befreundet war, taucht das Bild wieder auf, » zu meiner Marter, zu meiner Züchtigung, wer weiß? « Vielleicht eine Strafe für den Tod der Großmutter, den er nicht zu verhindern gewußt hat? » Es war eine furchtbare ›terra incognita‹, in der ich hier landete, eine neue Phase ungeahnter Leiden, welche sich mir eröffnete. « Das klingt schlimm, und man möchte ihm so gerne helfen, aber wahrscheinlich könnte das nicht mal Albertine. Die ahnt nichts von seiner Beunruhigung, geht zur Wagentür und möchte aussteigen: » Aber diese ihre Bewegung, die sie machte, um auszusteigen, zerriß mir unerträglich das Herz, […] daß ich nach ihr griff und sie verzweifelt am Arm zog. « Sie ist auch sofort bereit, die Nacht im Hotel in Balbec zu verbringen, wo Marcel in seinem Zimmer sein Schluchzen unterdrückt, damit ihn die Mutter nebenan nicht hört. Er muß daran denken, wie Albertine Mademoiselle Vinteuil » mit einem Lachen in die Arme
Weitere Kostenlose Bücher