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Schmidt Liest Proust

Schmidt Liest Proust

Titel: Schmidt Liest Proust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Schmidt
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Täuschungen dahin wie der Fisch, welcher meint, das Wasser, in dem er schwimmt, breite sich auch jenseits der Glasscheibe seines Aquariums aus. « Ein guter Hinweis, warum sollte der Fisch auch denken, wir schwämmen nicht im Wasser, dann würden wir uns schließlich sofort zu ihm ins Aquarium retten.
    Charlus und Brichot streiten, ob Balzac überschätzt ist oder vielmehr wundervoll, was ich auch gerne einmal wüßte, bevor ich mich in das nächste Leseabenteuer stürze. Cottard schaltet sich wie immer nur in fremde Gespräche ein, um irgendeine vermeintlich witzige Floskel anzubringen oder einen der wenigen lateinischen Sprüche, die er beherrscht. Aber so dumm ist es diesmal gar nicht, wenn er bemerkt, daß Sokrates noch für Allerweltssprüche unsterblich werden konnte, während das heute doch etwas schwieriger wäre: » Wenn man bedenkt, daß Charcot und andere tausendmal bedeutendere Arbeiten gemacht haben, die sich wenigstens auf etwas stützen, wie die Aufhebung des Pupillarreflexes als Nebenerscheinung der allgemeinen Paralyse, und daß sie doch fast vergessen sind! «
    Die Qualen, die der Emporkömmling Morel seinem Gönner und Verehrer Charlus bereitet, wenn er den beleibten Herrn in geziertem Ton vor Freunden vom Militär oder vor Musikern verleugnet, oder sich sogar selbst öffentlich über ihn lustig macht. Für den Gedemütigten ein Teufelskreis, da » derjenige, welcher liebt, gezwungen ist, immer von neuem einen Versuch zu machen und sein Gebot dauernd zu erhöhen« , während es »im Gegenteil dem andern, der nicht liebt, leichtfällt, eine gerade, unbeugsame und von Eleganz geprägte Linie zu verfolgen «. Dazu kommt die Selbsttäuschung des Liebenden, der, wenn der Geliebte, sobald man dazutritt, geniert den Blick senkt, darin » einen ganzen Roman « sehen will, während der Grund dafür in Wirklichkeit » Gereiztheit und Scham « ist.
    Unklares Inventar:
    – Cheviotjacke.
    Verlorene Praxis:
    – Jemandem durch seine graue Toilette die Idee nahelegen, daß man dem Leben abgewandt ist.
    – Die Rue Bergère hoch über den Faubourg Saint-Germain stellen.
    117 . Mi, 15.11., Berlin
    Während ich hier im Internetcafé schreibe, starrt mich ein elektronisches Zyklopenauge an, auf dem »Genius« steht. Kann man aus meinem Gesichtsausdruck den Text ablesen, den ich gerade tippe? Das wäre vielleicht auch wieder etwas für »Wetten, dass …?«. Andere Produktnamen in meinem Blickfeld: ein Bildschirm namens »Captiva«, »Die Gefangene«. Da horcht man natürlich als Proust-Leser auf. Welcher Zufall war hier am Werk, daß ich ausgerechnet an »Die Gefangene« meinen Proust-Beitrag schreibe, von »Genius« beobachtet? Neulich war schon eine ähnliche Koinzidenz aufgetreten, als ich, von Eifersucht getrieben wie zuletzt vor fünfzehn Jahren, nachts um drei Klingelschilder nach einem bestimmten Namen absuchte und sofort ausgerechnet auf »Montesquiou« stieß. Man fühlt sich, wie in »The Game«, irgendwann kommt die Auflösung, und wir werden alle aufatmen. Man wartet ja in seinem Leben sowieso ständig darauf, daß sich endlich der Moderator zu erkennen gibt und es heißt: »Verstehen Sie Spaß?«
    Die Botschaft des dritten Produkts, das mir heute etwas sagen will, habe ich noch nicht entschlüsselt, ein orangefarbener Kugelschreiber, auf dem »acora – Hotel und Wohnen« steht. Auf der Homepage heißt es: »Cor kommt aus dem Lateinischen und bedeutet ›Herz‹, cordial aus dem Französischen und heißt ›herzlich, freundlich‹. Von diesen Gedanken haben wir uns im Jahr 1993 leiten lassen, einen Firmennamen für unsere Hotelgruppe zu definieren. Gastfreundschaft von Herzen – das ist acora.« Warum nicht einfach »aherza«? Wenn unsere Vorfahren auch so unbefangen mit den Wortbildungsregeln umgegangen wären, müßten sich Deutschlernende heute ganz schön strecken. »Diese Definition ist nicht nur Platzhalter auf unserer Homepage und in unseren Prospekten, sondern wir bemühen uns täglich, diese Philosophie im Umgang mit unseren Gästen und Mitarbeitern umzusetzen.« Wenn »Gastfreundschaft von Herzen« eine Philosophie ist, dann nenne ich mich in Zukunft auch Philosoph. Sollte der Kugelschreiber darauf hinauswollen? »Der Gast soll sich in jedem acora Hotel und Wohnen einfach wohl fühlen – wie zu Hause.« Hier steckt ein fataler Denkfehler, »wohl fühlen« und »wie zu Hause«? Und selbst, wenn: Warum sollte ich Geld dafür bezahlen, mich in einem Hotel wie zu Hause zu fühlen?
    Vielleicht

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