Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schmidt Liest Proust

Schmidt Liest Proust

Titel: Schmidt Liest Proust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Schmidt
Vom Netzwerk:
für einen Menschen, der aus einem bereits fahrenden Zug abspringt, dann, wenn er einen Augenblick in der Fahrtrichtung weiterläuft, der Akt, trotzdem nicht hinzufallen «. Das hat meine Tochter noch nicht verstanden, wenn sie mit mir morgens gleich nach dem Aufwachen lange Gespräche führen will.
    Ein überraschendes Bekenntnis: » In jedem Augenblick muß man zwischen der Gesundheit, der Vernunft auf der einen und den subtilen Genüssen des Geistes auf der anderen Seite wählen. Ich habe immer die Feigheit besessen, mich für die ersteren zu entscheiden. « Ich weiß nicht, ob es Feigheit ist. Der Schluß liegt nahe, daß der Autor in Marcel spürt, daß er so etwas wie ein Schicksal braucht. Und statt sich zu diesem Zweck wie andere freiwillig für den Ersten Weltkrieg zu melden, läßt er sich mit einer Frau ein, die ihn nicht liebt. Man könnte sich ihr sicher auch entziehen, aber das darf man nicht, wenn man die Abgründe menschlicher Leidensfähigkeit studieren will. Zum Glück müssen wir das nicht mehr tun, die Erkenntnisse, die Proust gewonnen hat, liegen für alle Zeiten vor. Man kann sich heute statt dessen anderen Themen widmen und zum Beispiel einfach wieder über Kriege schreiben statt über Beziehungen.
    Unklares Inventar:
    – Kartenschlägerin, Volubilis, Porzellankitter.
    Selbständig lebensfähige Sentenz:
    – » [S]o bleibt die Welt des Wachseins doch darin überlegen, daß sie jeden Morgen eine Fortsetzung finden kann, nicht aber allabendlich der Traum. «
    128 . Mi, 29.11., Berlin
    Das Mädchen, das letztes Jahr nicht wollte, hatte dann am Ende doch gewollt, als ich nicht mehr richtig wollte. Ich weiß nicht, wie ich sie überzeugt habe und warum sie mich irgendwann nicht mehr überzeugt hat. Aber der Kummer ist eigentlich vergleichbar, so wie man wahrscheinlich dasselbe fühlt, egal an welchen Gott man glaubt. Das ist ja, was Proust dauernd behauptet, daß die Liebesgefühle gar nichts mit demjenigen zu tun haben, der sie auslöst. Ich weiß nicht, ob das stimmt, vielleicht ist »Liebe« in dem Fall das falsche Wort. Ich wüßte nur gerne, wie man das Drama beim nächsten Mal vermeidet.
    Es war damals von Anfang an aussichtslos, man brauchte ein Flugzeug, um sich zu sehen, aber man glaubte an ein Recht auf Unvernunft, wenn es um »Höheres« ging, also Gefühle, die heutzutage und in meinem Alter doch eine seltene Ressource sind. Es wäre sozusagen Gotteslästerung gewesen, diesen nicht alles zu opfern. Ob sie mich in Berlin besuchen würde, hatte ich sie am Anfang gefragt: »Too cold«, war ihre Antwort gewesen, die mich natürlich traf, weil ich ihr sofort glaubte, daß sie schon aus klimatischen Gründen kein Interesse an meiner Stadt hatte, außerdem stand der Winter vor der Tür. Statt ins langweilige Deutschland zu fahren, wollte sie bei nächster Gelegenheit ihre Cousins im sonnigen Argentinien besuchen, die wie der Che aussähen. Mehr Pläne für die Zukunft hatte sie nicht.
    Man sollte bei Frauen, in die man sich verlieben möchte, immer darauf achten, daß sie keinen gut googlebaren Namen haben, sonst kann man sich später nie von ihnen lösen. Von ihr gibt es nur wenige Einträge, anfangs gab es sogar gar keinen. Jetzt liefert Google aber ein neues Ergebnis, dem ich entnehme, daß sie seit November für acht Monate als Sprachlektorin an einer Schule arbeitet, in einer der nördlichsten norwegischen Provinzen. Nordnorwegen! Wo man einen Schuhfön braucht! Ich las in dem Blog-Eintrag einer Person, die dort anscheinend ihre WG-Nachbarin ist, mehrmals ihren Namen, konnte mir das Geschriebene aber nicht übersetzen, weil ich nur ein Dänisch-Wörterbuch hatte, mit dem ich nicht hinkam.
    Norwegen …
    Die Gefangene, S. 152–173
    » Als Albertine sich entfernt hatte, spürte ich, wie ermüdend für mich ihre unaufhörliche Gegenwart, ihr unersättliches Verlangen nach Bewegung und Leben war, das meinen Schlaf in Frage stellte, mich wegen der ständig geöffneten Türen in dauernder Erkältungsgefahr leben ließ. « Oh, in dieses Horn möchte man auch stoßen, diese Frauen mit ihrer Manie, sich auch am Wochenende den Wecker auf acht Uhr morgens zu stellen, ihrem unausrottbaren Bedürfnis, trotz draußen stattfindender Bauarbeiten bei offenem Fenster zu schlafen (und womöglich mit elektronischer Musik im Hintergrund), ihrem ständigen Drang, einen bei ihren Appetitschüben mit ins Verderben zu reißen! Aber die hormonellen Vorteile, die eine stabile Partnerschaft für das Immunsystem

Weitere Kostenlose Bücher