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Schmidt Liest Proust

Schmidt Liest Proust

Titel: Schmidt Liest Proust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Schmidt
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trifft.
    Selbständig lebensfähige Sentenz:
    – » O Schönheit der strengen Augen in den Stunden der Tagesfron. «
    129 . Do, 30.11., Berlin
    Vor meinem Fenster wird ein Film gedreht, sie haben vor einer leeren Kaufhalle eine Dönerbude aufgebaut, in Berlin ist das, als würde man für Dreharbeiten in der Wüste Sand aufschütten. Wieviel Aufwand Filme verlangen und wie schwer es für den Regisseur sein muß, sich bei der Verantwortung für solch einen Apparat an Menschen und Technik noch auf den Film zu konzentrieren, von dem er träumt. Eine gigantische Scheinwerferbatterie beleuchtet von einem Kran aus quer über den Platz den Drehort. Das Licht hat jedenfalls etwas Tröstliches. Sie kommen zu mir, um hier zu drehen, also kann mein Leben ja nicht ganz bedeutungslos sein. Man sieht mich zwar nicht im Bild, aber der Film wäre ohne mich trotzdem ein anderer.
    »Feras, non culpes, quod mutari non potest.« Wie gut, daß ich mit Latein schon so weit bin, sonst hätte ich selbst darauf kommen müssen. Im Lateinkurs bin ich bis auf zwei Sechzigjährige der Älteste, immerhin jünger als der Lehrer. In der Namensliste habe ich meine Semesterzahl und meine Studienfächer trotzdem ausgespart als sei es eine Schande, im Alter noch neugierig zu sein. Man nimmt niemandem den Platz weg, denn nach wenigen Wochen kommt nur noch die Hälfte. Das Vergnügen am Lernen ist so groß, daß ich mir Sorgen mache, was einmal werden soll, wenn ich im Februar die Latinumprüfung bestehen sollte. Wo soll ich dann hin? Vielleicht setze ich die Prüfung einfach in den Sand, dann kann ich den Kurs nochmal machen.
    Steigerung im Ausdruck des Wünschens (»Grundwortschatz Latein nach Sachgruppen«): optare – desiderare – cupere – velle – appetere – petere.
    Worunter leide ich also im Moment? Voluntas, studium, cupido, libido, appetitus oder impetus?
    Die Gefangene, S. 173–194
    » [I]ch knackte mit den Fingergliedern […], sei es, daß ich meinen Körper ganz und gar bereithielt […] als sei er nur mehr eine Waffe, aus welcher der Schuß losgehen müsse, der Albertine von Léa und ihren beiden Freundinnen würde trennen können. « Nicht viele Autoren vor ihm werden das Motiv des Fingerknackens bemerkt haben, um es dann gleich so kühn umzudeuten.
    Wieder fällt ihm ein, wie intensiv Albertine schon in Balbec immer Mädchen angeschaut hatte, » ein so nachdrücklicher, derart zehrender Blick, daß man meinte, er müsse, wenn er sich wieder abwendete, die Haut der Passantin mitnehmen «. Im Grunde kommt seine Eifersucht gerade im rechten Moment, denn seine Glut droht ja ständig zu erkalten. Die » Heftigkeit meines Schmerzes « ist dann wieder ein Beweis.
    Mit Françoises Hilfe gelingt es dem kleinen Intriganten, der er ja ist (auch wenn er als Autor bisher noch daran scheitert, eine Intrigue zu schürzen), Albertine aus der Matinée zu holen. Die beiden sind auf dem Heimweg, bald wird Albertine eintreffen, und da die Gefahr einer Begegnung mit Léa erfolgreich abgewendet wurde, scheint es ihm sofort wieder, als würde er seine Zeit lieber alleine verbringen. All die kleinen Arbeiterinnen, Putzmacherinnen und Kokotten aus dem Bois, die er wegen Albertine auch heute nicht besuchen können wird …
    In dieser Zwickmühle setzt er sich ans Klavier und spielt noch einmal Vinteuils Sonate, wodurch Erinnerungen an die Spaziergänge nach der Seite von Guermantes wachwerden, damals, als er selbst Künstler werden wollte. » Als ich in der Tat auf diesen Ehrgeiz verzichtete, hatte ich da etwas Wirkliches aufgegeben? Konnte das Leben mich über den Verlust der Kunst trösten? « Oft wird man gefragt, warum man schreibt, aber mich interessiert eher, wie man es aushält, es nicht zu tun. »Was wird aus den Menschen, die keine Künstler werden? Nichts wird aus ihnen, das Nichts wird aus ihnen« (E. E. Cummings).
    Nach Vinteuil spielt er Tristan: » Von Wagner durch eine Wand von Tönen getrennt, hörte ich verstärkt sein Frohlocken, vernahm ich seine Aufforderung, seine Freude zu teilen. « (Wann hat er eigentlich Klavier geübt? Ist uns das entgangen? Man fühlt sich ja wie eine Ehefrau, die nach vierzig Jahren, also vermeintlich im Besitz erschöpfender Kenntnisse über sein Leben, zu ihrem Gatten sagt: »Das hast du mir nie erzählt, daß du früher mal ein Motorrad hattest!«) Wagner intonierend wandern seine Gedanken zu diesem eigenartigen Morel, der sich, zu Charlus’ Mißvergnügen, abends frei nimmt, um an einem Algebrakursus

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