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Schmidt Liest Proust

Schmidt Liest Proust

Titel: Schmidt Liest Proust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Schmidt
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mit sich bringt, könnten die Risiken von Zugluft eventuell ausgleichen.
    Nun hat Albertine einen Tag in Versailles verbracht, und in seiner Eifersucht phantasiert Marcel deshalb schon wieder. Er läßt sich vom Chauffeur beruhigen, der dabei gewesen war und ihm versichert, sie sei die ganze Zeit nur mit dem Führer vor Augen die Bilder abgegangen. » Ich glaube dennoch, daß jene Erklärungen des Chauffeurs, die mir Albertine, in dem sie sie unschuldiger darstellten, gleichzeitig langweiliger erscheinen ließen [Unglücklicher!] , nicht genügt hätten, mich so rasch zu beruhigen. Zwei kleine Pickel, die meine Freundin ein paar Tage lang an der Stirn hatte, brachten es noch besser zuwege, die Gefühle meines Herzens ein wenig zu dämpfen. « Gesegnete Hautunreinheiten, letzte Rettung der Liebeskranken!
    Dummerweise hat sie ihm Ansichtskarten aus Versailles mitgebracht, und jedesmal, wenn er diese beim Aufräumen findet, hat er » ein unangenehmes Gefühl «. Und so wird durch eine kurze, unglücklich verlaufene Affäre ein großer Teil unserer Welt zu einer Gefahr für die Nerven. Man staunt, von wievielen Seiten man an sie erinnert wird, denn nur weil man einmal über Pilates gesprochen hatte, schreit es jetzt von allen Wänden »Pilates«, nur weil sie einen Schal gestrickt hat, tragen alle Menschen Stricksachen, und wenn sie Spanierin war, wird man immer wieder von spanischen Reisegruppen angerempelt. Man muß sich sein Leben mühsam wieder zurückerobern, und vielleicht hilft dabei nur die von Proust so oft erwähnte anästhesierende Wirkung der Gewohnheit.
    Vielleicht, denkt er, kann es aber auch hilfreich sein, sich eines der Milchmädchen, der Putzfräulein oder eine der Lieferantinnen näher anzusehen, die die Wohnung frequentieren und die er nie beachtet hat? Berufstätige Frauen haben ihren eigenen Reiz. Man wünscht sich, daß die Frau » einem ganz speziellen Beruf obliegt, so daß wir mit ihrer Hilfe in eine Welt entweichen können, von der wir auf Grund ihrer besonderen Kostümierung romantischerweise annehmen, daß sie eine ganz andere ist «. Sie soll so weit wie möglich von uns entfernt sein, sich dann aber vollständig erobern lassen. » Wir wollen Bildhauer sein. Wir wollen eine Frau zu einer Statue modeln, die sich vollkommen von dem unterscheidet, was sie selber schon ist. « Und das geht so: » Wir haben ein gleichgültiges, schnippisches junges Mädchen am Strande erblickt, wir sind einer ernsthaften, geschäftigen Verkäuferin begegnet, die an ihrem Ladentisch steht und uns vielleicht sehr spröde Auskunft gibt, wäre es auch nur, um nicht zum Gespött ihrer Kolleginnen zu werden, oder haben es mit einer Obsthändlerin zu tun, von der wir mit Mühe eine Antwort erhalten. Dann aber geben wir keine Ruhe, bis wir ausprobiert haben, ob das hochfahrende junge Ding am Strande, ob die Verkäuferin, die nur daran denkt, was jemand von ihr sagen könnte, oder die uns so zerstreut bedienende Obsthändlerin nicht möglicherweise doch nach geeigneten Maßnahmen von unserer Seite ihre geradlinige Haltung verlassen, unseren Hals mit den Armen, die eben noch Fruchtkörbe trugen, umschlingen, auf unseren Mund mit gewährendem Lächeln bislang eisigkühle oder andern Dingen zugewandte Blicke lenken werden. «
    Ob es so wünschenswert wäre, wenn uns die Obsthändlerinnen plötzlich umschlängen? Jedenfalls scheint solch eine Inszenierung etwas Pathologisches zu haben, und ich wüßte gerne, wie man dieses Syndrom bezeichnet.
    So übel ist das Milchmädchen nicht, das er sich aufs Zimmer kommen läßt: » Ich hob den Blick zu ihrem gelblich quellenden, künstlich gelockten Schopf und spürte, wie sein Wirbel mich mit klopfendem Herzen in die lichtdurchzuckten Stürme eines Orkans der Schönheit entführte. « Doch unglücklicherweise bringt ihm diese rettende Nymphe den Figaro, in dem er ja Tag für Tag vergeblich nach seinem ersten kleinen Text sucht, und in dem er jetzt liest, daß eine »Léa« bei der Matinée auftreten wird, zu der er Albertine geschickt hat. » Es war, als risse jemand in brutaler Weise von meinem Herzen den Verband, unter dem es seit meiner Rückkehr von Balbec zu vernarben begann. « Denn Léa war mit den beiden freizügig lesbischen jungen Mädchen aus Balbec befreundet gewesen. Gegen solch eine Einladung zur Eifersucht kann das Milchmädchen nichts ausrichten. Eile ist geboten, aus der Entfernung muß verhindert werden, daß Albertine hinter den Kulissen des Theaters auf Léa

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