Schmidt Liest Proust
Liebesgeschichte zu genießen? Hat schon einmal ein Angler, nachdem er endlich den richtigen Fisch gefangen hat, für immer das Angeln eingestellt?
In Swanns Welt, S. 461–482
Ein Zeitsprung, die Odette-Episode hatte sich ja vor Marcels Geburt abgespielt. Jetzt hat wieder Marcel das Wort, und das bedeutet, daß allein die Namen der Stationen an der Eisenbahnstrecke nach Quimperlé Gelegenheit für seitenlange Prosapoesie bieten. Einerseits ist es sinnlos, an Orte zu reisen, von deren Namen man nicht geträumt hat, andererseits ist die spätere Reise dorthin nur umso enttäuschender: » Selbst unter einem ganz realen Gesichtspunkt nehmen die Gegenden, nach denen wir uns sehnen, in jedem Augenblick unseres wirklichen Lebens sehr viel mehr Raum ein als das Land, in dem wir uns befinden. « Die nervöse Natur des kleinen Marcel muß seinen Eltern Rätsel aufgegeben haben. Weil sein Vater ihm ankündigt, Marcel werde demnächst nach Venedig fahren dürfen, überfallen ihn vor Freude Fieber und Brechreiz. Auf Anraten des Arztes muß er zur Schonung seiner Nerven für ein Jahr zu Hause bleiben. Was für ein eigenartiges Kind, man kündigt ihm ein Vergnügen an, und es muß sich übergeben. Zur Erholung muß Marcel täglich auf den Champs-Elysées spazieren gehen, die ihm gleichgültig sind, weil sein Lieblingsautor Bergotte nie über sie geschrieben hat und sie deshalb in seine Phantasie keinen Eingang gefunden haben, » nichts in diesem Park paßte zu meinen Träumen «. Eine Absage an romantische Naturerfahrung und Tourismus. Man empfindet nichts, wenn man nicht vorher darüber gelesen hat. Man bereitet sich auf eine Reise am besten vor, indem man jahrelang über Ortsnamen meditiert. Das Gebiet, das ich in der Fremde betrete, muß nach Bezügen zu mir abgesucht werden, und wenn nur die Hausnummer dieselbe ist wie in einer früheren Straße an einem anderen Ort. Umgekehrt funktioniert es genauso. Zu Hause bei Goethes hingen Stiche mit Ansichten aus Italien, die der Vater von dort mitgebracht hatte. Goethe selbst hat das eher die Lust auf eine Reise dorthin genommen, weil er unter seinem strengen Vater litt und dessen Reise nicht wiederholen wollte. Er hat dann aus Italien für immer Goethes Italien gemacht, und damit einerseits den Auftrag des Vaters erfüllt und sich andererseits durchgesetzt.
Ausgerechnet auf den Champs-Elysées trifft Marcel nun Gilberte wieder, die Tochter von Swann. Er darf mit ihr »Barlauf« spielen, was immer das sein mag (eigentlich klingt es ja eher wie ein Spiel für Erwachsene). Und jetzt geht die ganze Liebeskomödie wieder los: kommt sie, kommt sie nicht? Wird er mit ihr sprechen? Was macht sie in der Zeit, wenn er sie nicht sieht? Eine ganze Seite kann man über die Farbe des gegenüberliegenden Balkons schreiben, von der man das Wetter abliest, von dem es wiederum abhängt, ob Gilberte kommen wird. Wie der Asphalt in Buch. Würden die trockenen Flecken rechtzeitig die Pfützen zurückdrängen und das Fußballspiel gegen die Parallelklasse stattfinden können? Das regennasse Grau der Plattenbaubalkonbrüstungen.
Marcel wundert sich selbst über seine Grausamkeit. Bei der Vorstellung, die Großmutter sei unterwegs zu ihnen überfahren worden, denkt er als erstes daran, daß er dann ja nicht zu Hause bleiben müßte und noch einmal auf die Champs-Elysées zu Gilberte gehen könnte: » [M]an liebt niemanden mehr, wenn man liebt. « Als Gilberte zum ersten Mal seinen Vornamen ausspricht, ist ihm, » als habe sie einen Augenblick lang mich selbst in ihrem Munde gehalten «. Wie geht ein Namenfetischist wie Marcel Proust eigentlich damit um, daß es noch andere Menschen gibt, die Marcel heißen? Obwohl ich das Problem ja kenne, aber mir kommt es immer vor, als heiße nur ich wirklich Schmidt, ein paar andere tragen den Namen zwar auch, aber es ist doch jedem klar, wer der eigentliche ist.
Zur Jugendliebe gehört der » schmerzliche Reiz «, den die Eltern der Angebeteten für ihn besitzen. Außerdem fällt sie in eine naive Lebensphase, in der man noch ungeübt ist » in der Kultur seiner Freuden « und glaubt, » daß die Liebe wirklich etwas außerhalb von uns Existierendes sei «. »True love exists, we see it on our monitors«, wie ein israelischer Gehirnforscher mal zu mir sagte. Eines Tages werde es Spritzen geben, um einen auch davon zu heilen. Aber würde man so einer Therapie zustimmen? Oder wird man gar nicht gefragt, und es ist, wie wenn man im Koma liegt, und die Familie
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