Schmidt Liest Proust
erlangen, diverse wunderwirkende Messingknäufe angefaßt und Brücken zweimal überquert habe, bin ich nun durch die »0« vom Kilometer 0 der Donau gestiegen, was mir in Zukunft Glück bringen soll.
In Swanns Welt, S. 397–411
Wir sind immer noch bei der Marquise de Saint-Euverte, wo die Prinzessin des Laumes, wenn sie jemanden begrüßen muß, » die Hand hinhielt wie eine Karte, mit der man notgedrungen ›bedient‹« . Sie ist » außerstande, ein Kompliment anzuhören, das ihr galt, ohne es äußerst reizvoll und unwiderstehlich launig und lustig zu finden «.
21. Mo, 7.8., Odessa, Uspenskaja 13
Strenggenommen geht es seit zweihundert Seiten um einen Mann, der eine Frau liebt, die ihn nicht liebt, weshalb er sie eigentlich nur liebt. » Manchmal hoffte er, sie werde, ohne zu leiden, bei einem Unfall umkommen. « Das würde die Sache in der Tat abkürzen. Wenn das Ende dieses ersten Bands nicht durch Zufall mit dem Ende meiner Forschungsreise zusammenfallen würde, ich würde es fast herbeisehnen. Plangemäß werde ich Anfang Februar die letzte Seite lesen, und die Nostalgie, die ich dann empfinden werde, wenn ich an die Zeit zurückdenke, als ich das Buch begonnen habe, also an jetzt, ist schon zu ahnen. Ich werde das Buch also irgendwann noch einmal lesen, um mich an heute zu erinnern und über meine rührenden Anstreichungen zu schmunzeln. Da ich dann besser als jeder andere über die seelischen Hintergründe der Liebe informiert sein werde, werde ich mich nie mehr verlieben, so wie ich ja auch nie mehr krank geworden bin, seit ich weiß, daß die Ursache von Grippe Grippeviren sind. Der Trick ist, niemals unter Menschen zu gehen, dann kann man der nächsten Liebeswelle ganz gelassen entgegensehen und muß auch die Vogelliebe nicht fürchten, selbst wenn sie, wegen der Massentierhaltung, auf den Menschen überspringen sollte. Andererseits überträgt Liebe sich auch übers Telefon, manchmal brütet man sie ja sogar selber aus. Man darf mit niemandem reden und nicht nachdenken.
In Swanns Welt, S. 411–437
Vinteuils Melodie wird weiter besprochen, und die Natur von Melodien im allgemeinen erörtert. Der Komponist findet nur, was schon da ist. Würde er etwas Eigenes hinzufügen, würden wir den Betrug sofort bemerken. Melodien sind Spuren einer Welt anderer Ordnung, durch die wir erkennen, » welche Fülle der Vielheit uns unbewußt jene große undurchwanderte, entmutigend ziellose Nacht unserer Seele birgt, die wir für Leere halten und für nichts «. Wobei das auch mit anderer Musik funktionieren kann, man denke an die Minderjährige, die bei einem Tokio-Hotel-Konzert ein Schild: »Georg, fick mich in die Unendlichkeit!« hochhielt, weil sie einen Führer durch die entmutigend ziellose Nacht ihrer Seele suchte.
Mutmaßungen über Odettes Vergangenheit beschäftigen Swann. Sie soll etwas mit Frauen gehabt haben, wird ihm in einem anonymen Brief mitgeteilt. » Wie viele Menschen war Swann ziemlich trägen Geistes und ohne jede Erfindungsgabe. In Form einer allgemeinen Lebensweisheit war ihm zwar wohl bekannt, daß das menschliche Leben eben reich an Widersprüchen sei, aber bei jedem Einzelwesen stellte er sich dennoch vor, daß der ihm unbekannte Teil von dessen Leben mit dem ihm bekannten völlig identisch sein müsse. «
Wie die dichterische oder wissenschaftliche Eingebung funktioniert auch die Eifersucht. Aus der Beobachtung wird einem plötzlich das Gesetz klar. Schreckliche Momente, in denen einem bewußt wird, wie naiv man gewesen ist. Während man noch überlegt hat, ob es zu dreist wäre, sie mal zum Eis einzuladen, hat sie schon mit allen anderen geschlafen.
Wie ein Chirurg geht Swann vor und wartet ihre »Abwehrkrämpfe« ab, um nachzufragen und das Messer anzusetzen. Schließlich gibt sie zu, zwei- oder dreimal etwas mit Frauen gehabt, auch Forcheville schon vor ihm gekannt und sogar schon mit ihm » dejeuniert « zu haben. Und an dem Abend, als alles begann, als er sie so verzweifelt gesucht hatte, das Pferd scheute und die Orchideen verrutschten, war sie vorher im Café von Forcheville angesprochen worden, ob er ihr » seine Stiche zeigen « dürfe. Was für ein Schlag! Sogar in der Zeit ihres größten Glücks hat sie ihn schon hintergangen! Wenn das Glück also auf Einbildung und Blindheit beruhte, warum kann er nicht einfach wieder blind sein und sich etwas Angenehmes einbilden?
22. Di, 8.8., Odessa, Uspenskaja 13
Zwei Kräfte wirken zur Zeit in mir, der hier allgegenwärtige
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