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Schmidt Liest Proust

Schmidt Liest Proust

Titel: Schmidt Liest Proust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Schmidt
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erstreitet sich vor Gericht das Recht, die Liebe in einem abschalten zu lassen?
    Bewußtseinserweiterndes Bild:
    – Im Winter ist die Seine zugefroren, » der nun alle, selbst die Kinder, sich furchtlos näherten wie einem riesigen gestrandeten Wal, der wehrlos seiner Zerteilung entgegensieht «.
    – Eine Statue » trug jetzt einen Eisklumpen in der Hand, der ihre Gebärde zu motivieren schien «.
    Verlorene Praxis:
    – Ihr einen Rohrpostbrief schicken.
    24. Do, 10.8., Lot-Air Warschau-Berlin
    In Rußland habe ich wieder Wartende hocken gesehen, alleine oder zu zweit, nebeneinander oder gegenüber, rauchend, mit einer Bierflasche in der Hand. Andere Eigenarten der Region: bunt lackierte Klettergerüste, die aussehen wie Kosmonautentrainingsgeräte. Überhaupt die Tendenz, Metall immer wieder zu streichen. Auch, daß der Deckel, wenn man sich die Bierflasche im Laden öffnen ließ, auf der Flasche liegengelassen wurde, hat sich mir nicht erklärt.
    Ob die russischen Männer mit ihrem Auftreten den Bedürfnissen der russischen Frauen entgegenkommen oder umgekehrt, konnte mir niemand beantworten. Beide Seiten könnten nicht verschiedener sein. In der Zeitung gelesen, die Kürze der Miniröcke stehe im Verhältnis zum Frauenüberschuß, der die Konkurrenz anheize. Aber kann man für alle Fische den gleichen Köder benutzen? Was ist, wenn man sich einen Mann fangen will, der sich daran freut, » wie zauberhaft Madame Swann mit einer schlichten mauvefarbenen Kapotte oder einem kleinen Hut aussah, den nur eine einzige aufwärts gerichtete Irisblüte überragte «.
    Packen, Stullen mit Ikra schmieren. Der Fahrer kämpft sich fluchend durch den Verkehr. Die jungen Leute, woher sie das Geld für solche Autos hätten. Zählt auf, in welchen deutschen Städten er schon war, als seien es Zusatzqualifikationen. In Berlin auf der Straße des 17. Juni waren so viele Prostituierte. In Odessa würden sie fünfzig Euro kosten, aber für die ganze Nacht: »Djelaesch schto chotschesch.« War in der DDR stationiert, Cottbus, Eberswalde-Finow. Ich soll ihm sagen, was auf deutsch »Tschlen« heißt, und was »Chuj«.
    In Swanns Welt, S. 482–506
    » Als die Stunde der Briefbestellung kam, sagte ich mir an diesem Abend wie an allen anderen: ›Ich bekomme sicher einen Brief von Gilberte, sie wird mir endlich sagen, daß sie nie aufgehört hat, mich zu lieben, und mir erklären, aus welchem geheimnisvollen Grund sie gezwungen war, es mir bisher zu verbergen und so zu tun, als könne sie glücklich sein, ohne mich zu sehen.‹« Selten schreiben die Gilbertes dieser Welt den Marcels die ihnen zustehenden Briefe. Marcel überlegt sich einfach selbst den Text des Briefs, den er erhalten will, und erschrickt, weil er ja nur durch einen großen Zufall genau diesen Brief von ihr bekommen kann. Weil er ihrem Vater ähneln will, zupft er sich dauernd an der Nase und reibt sich die Augen, am liebsten wäre er kahl. Er stellt sich vor, wie ihm Gilberte eines Tages » bei meiner Arbeit helfen und für mich Zeitschriften durchsehen könnte «. Sie wird begeistert sein.
    Ganz nebenbei wird auch noch die Identität von Gilbertes Mutter enthüllt. Es ist Odette de Crécy, die Frau, bei der man sich, wenn man ihr im Bois begegnet, zuraunt: » Ich erinnere mich, ich hatte sie an dem Tage, als Mac-Mahon demissionierte. « Swann hat sie also doch noch geheiratet.
    Die Zeiten haben sich aber geändert. Statt Kutschen sieht man nur noch Automobile, » von bärtigen Mechanikern gelenkt «. Die Frauen tragen » griechisch-angelsächsische Tuniken nach dem Vorbild der Tanagrafiguren, manchmal auch im Directoirestil, aus gerafftem Libertychiffon, mit Blumen übersät wie eine Zimmertapete «. Einer der Sätze, bei denen man sich überfordert fühlt, wie bei der Nacherzählung einer Modenschau. Die neue Zeit läßt sich knapp resümieren: » Es waren Durchschnittsfrauen, deren Eleganz mich nicht überzeugte und deren Toiletten mir unbedeutend schienen. «
    Unklares Inventar:
    – Philipp VII, eine Toque, Ampelopsis.
    Verlorene Praxis:
    – Sich lange mit einer Frau unterhalten, während ihr Wagen und der eigene im Schrittempo folgen.
    – Zurückblicken, um seinen Windhund zu rufen.

2. Buch
Im Schatten junger Mädchenblüte.
    25. Fr, 11.8., Berlin, Seelower, bedeckt, mild-kühl
    Gérard Genette bemerkt in »Paratexte«, der Ehrgeiz vieler Autoren liege darin, einmal ein so dickes Buch zu schreiben, daß Autorname und Titel auf dem Buchrücken horizontal Platz

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