Schmidt Liest Proust
schreit eine halbe Stunde lang Flüche in die antike Landschaft. Braungebrannt und blond von der Sonne kehrt er nach London zurück und atmet auf, weil alles sehr kräftezehrend gewesen ist. Er fühlt sich wie der Messias, weil ihm die Passanten auszuweichen scheinen. Er erinnert sich nicht mehr an ihren Namen, er weiß nur noch, daß er »Gnade« bedeutete. Er sucht zwei Wochen im Internet nach einem tamilischen Wörterbuch, findet die Übersetzung von »Gnade« und findet auch eine Spur des Mädchens im Internet, einen Brief an einen Guru. Anscheinend hatte sie es doch ernst gemeint mit dieser Sekte, von der sie gesprochen hatte.
Die Gefangene, S. 422–442
Ein schmerzhaftes Prüfen der Möglichkeit einer Trennung, ein Durchleben des Kummers, obwohl es sich nur um eine » Trennungskomödie « handelt. Die Unmöglichkeit zusammenzuleben und die Unmöglichkeit, allein zu bleiben, aufgelöst in ein (von Marcel inszeniertes) Wechselspiel von vollständiger Unterwerfung der Frau (» Versklavung «), Eifersucht und Unsicherheit, die der Mann ihrer vermeintlichen Lügenhaftigkeit wegen durchlebt. Oder waren » nicht dennoch meine argwöhnischen Vermutungen Fühlfäden gleich, die die Wahrheit ertasteten« ? » Außerdem spüren wir sehr wohl, daß in solchen Lügen ein Stück Wahrheit liegt, daß, wenn das Leben in unsere Liebeserfahrungen keine Veränderungen trägt, wir selbst eine solche hineinbringen oder wenigstens erfinden und von Trennung sprechen möchten, so sehr fühlen wir, daß alle Liebeserlebnisse und alle Dinge überhaupt in rasender Eile dem Abschied entgegentreiben «.
Für ihn ist diese Trennungskomödie » die große Schlacht «, in der er ein » Scheinmanöver « unternimmt. Er darf nur nicht zu hoch pokern, sonst nimmt sie seine Behauptung ernst, sich gleich morgen für immer trennen zu wollen. Tatsächlich verspricht sie ihm, ihn nie wiederzusehen, wenn er das doch wünsche, denn sie wolle ihm keinen Kummer bereiten. Im letzten Moment wird aber die Reißleine gezogen und Zusammenleben für weitere Wochen vereinbart. » Ich setzte sie auf meine Knie, nahm das Manuskript von Bergotte, das sie sich so sehr wünschte, und schrieb auf den Deckel: ›Für meine kleine Albertine zur Erinnerung an die Erneuerung unseres Abkommens.‹« Wofür Manuskripte so alles gut sein können …
Sie geht zu Bett und möchte ihn in fünf Minuten noch einmal sehen, aber als er dazutritt, schläft sie schon: » Bald hörte ich ihre regelmäßigen Atemzüge. Ich ließ mich am Rande ihres Bettes nieder, um die beruhigende Kur einer nur von diesem Hauch gewiegten Kontemplation auf mich wirken zu lassen. « (Mit anderen Worten: Er sieht ihr beim Schlafen zu.) » Ich versuchte, mir klarzumachen, welches die wirkliche innere Verfassung Albertines wohl sei. « Das ist wohl überhaupt der Kern der Angelegenheit, man kann in den anderen nicht hineinsehen, vielleicht gibt es dort drinnen gar keine »echte« Albertine, schließlich besteht sie auch aus dem, was er sich über sie denkt. Vielleicht kann man deshalb so schwer erklären, was man fühlt, weil es gar keine buchbare Gefühlssubstanz gibt, nur das Reden darüber.
Er sieht sich aber in guter Gesellschaft mit Nationen, die sich mit Krieg bedrohen, um Zugeständnisse zu erzwingen, während keine der beiden Seiten weiß, ob die andere wirklich ernsthaft zum Krieg bereit gewesen wäre, wenn man nicht eingelenkt hätte.
Unklares Inventar:
– Monsieur Delcassé, Tattersall.
Selbständig lebensfähige Sentenz:
– » […] weil bei einer Trennung derjenige, der nicht mit wahrer Liebe liebt, die zärtlichen Dinge sagt, während wahre Liebe sich nicht deutlich ausspricht. «
142 . Fr, 15.12., Berlin
Die Kunstgeschichte läßt sich wie folgt zusammenfassen: Die Megalithkulturen stellen Steine in die Landschaft, Phallussymbole. Dann bekommen die Steine Köpfe gemeißelt und es handelt sich um Krieger oder Götter. Dann sieht man genauer hin und bildet den Menschen nach. Bilder bleiben nur erhalten, wenn sie auf Haushaltsgeschirr gemalt werden. Die Römer kopieren noch einmal alles. Dann beschränkt man sich darauf, vorwiegend Jesus und seine Familie zu malen. Die individuelle Sicht des Künstlers auf unsere Existenz drückt sich darin aus, welchen Winkel der Oberkörper des Jesuskinds zum Kopf der Maria einnimmt. Die Avantgarde amüsiert sich damit, auch Jesus Hände leicht anzuwinkeln. Dann malt man wieder Götter, diesmal die antiken. Dann wird in Holland, statt auf
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