Schmidt Liest Proust
erwarten können, wird Charlus in der Folge keine Repressalien gegen die Verdurins in die Wege leiten. Er zieht sich eine lebensgefährliche Lungenentzündung zu. In diesem Zustand ist ihm seine Rache gleichgültig, » nachdem Monsieur de Charlus einen Augenblick an die Verdurins gedacht hatte, fühlte er sich zu erschöpft, wendete sich zur Wand und dachte an gar nichts mehr «.
Marcel verläßt nun endlich das Haus der Verdurins, er denkt ja ohnehin schon die ganze Zeit nur an die bei ihm wartende Albertine. So auch unterwegs, wo er nur sehr oberflächlich auf das Gerede von Professor Brichot achtet (was Proust nicht davon abhält, es Wort für Wort zu protokollieren). Er sieht Albertines von elektrischem Licht schwach beleuchtetes Fenster. Gleich wird er das Zimmer betreten. Früher, wenn » für mich die Stunde der Zärtlichkeit kam «, wäre er nach Venedig gefahren oder wenigstens in einen Winkel des nächtlichen Paris, jetzt findet er das Gewünschte zu Hause. Das ist für ihn eine äußerst bemerkenswerte Reform der Lebensführung. Kehrte man früher heim von Menschen, » die von außen her dem Denken Nahrung zutrugen «, und war dann zu Hause gezwungen, diese Nahrung in sich selbst zu suchen, so wartet nun die Person, » bei der ich am vollständigsten aufs Denken verzichtete «, hinter der Wohnungstür. Und deshalb sehen die von den Fensterläden herausgeschnittenen parallelen, hellen Streifen aus wie » das leuchtende Gitterwerk, das sich hinter mir schließen würde und dessen unverbiegbare goldene Stäbe ich für eine ewige Knechtschaft selbst geschmiedet hatte «.
Eine Liebeserklärung klingt anders.
Unklares Inventar:
– Eine toryhafte Form der Güte, der Teich Bethesda, Peary, spanische Kreide, Monseigneur d’Hulst.
Verlorene Praxis:
– Den Namen des Athleten, den man liebt, in den Ring der Zeusskulptur ritzen, die man geschaffen hat.
140 . Mi, 13.12., Berlin
Wenn man mit siebzehn schon wüßte, was das Liebesleben für einen bereithält, vielleicht würde man dann wie Michel in »Elementarteilchen« gleich verzichten. Wenn ich zurückschaue, kommt es mir rätselhaft vor, wie ich so viele Niederlagen überstanden haben soll. In der Jugend dachte man vielleicht, der Kummer gehöre dazu und man müsse sich das spätere Glück verdienen, an das man glaubte wie an eine Erlösung. Heute sorgt das Schmerzgedächtnis dafür, daß man Frauen, die einen überfordern könnten, aus dem Weg geht, aber natürlich findet man vor allem solche Frauen reizvoll. Früher dachte ich immer, ich könnte alle Frauen von ihren Dämonen befreien, ich müßte ihnen nur die Hand auf die Stirn legen, dann würden sie schon so berechenbar wie ich, vernünftig essen und sich nicht die Arme aufritzen. Aber man weiß nichts von anderen Menschen. Ich habe in einem Buch das Foto einer sehr attraktiven Serienmörderin gesehen, wie kann diese Frau gemordet haben? Ich glaube, selbst bei ihr hätte ich mir eingebildet, sie durch meine beruhigende Ausstrahlung zur Vernunft zu bringen.
Die Pankowerin hat mir mein schönstes Geburtstagsgeschenk seit dem Schaumstoffußball von meiner Tante aus Hamburg gemacht, ich sollte die Kerzen auspusten und erst Tage danach ist mir aufgefallen, daß ich mir in dem Moment nicht gewünscht habe, daß es mit ihr klappt, sondern daß nach zwei Mißerfolgen mein nächstes Manuskript angenommen wird. Jetzt denke ich, daß es vielleicht an dieser Unaufmerksamkeit gelegen hat, denn gestern haben wir unser letztes Gespräch geführt, das sich immer noch anfühlte wie ein Gespräch zwischen Liebenden, nur daß sie danach vermutlich erleichtert war.
Und heute kam mit der Post mein neuer Vertrag.
Die Gefangene, S. 402–422
Was nun zwischen Albertine und Marcel folgt, klingt sehr verwirrend, es ist schade, daß wir nur seine Version kennen. Er lügt, um sie zu halten, und weil er lügt, geht er davon aus, daß auch sie lügt. Aber lügt sie wirklich, oder ist er nur unfähig, ihr zu vertrauen? Es geht immer noch um weit zurückliegende Episoden aus Balbec. Tatsächlich hatte sie dort dem Chauffeur zuliebe, der etwas erledigen mußte, eine Reise vorgetäuscht und war drei Tage irgendwo untergeschlüpft, um sich schrecklich zu langweilen. Doch bei ihm bewirkt das Geständnis, » daß ich mich nun wie in einer völlig zerstörten Stadt fühlte, in der kein Haus mehr steht «. Denn er kann einfach nicht glauben, daß Albertine in den drei Tagen Langeweile nicht auf den Gedanken gekommen sein soll, kurz zu
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