Schmidt Liest Proust
Geschirr zu malen, Geschirr gemalt. Dann kommen Bilder von Naturkatastrophen, Vulkanausbrüchen, Unwettern, Schiffsuntergängen, eine Art Hollywood für die Wände. Und dann kommt das zwanzigste Jahrhundert, jeder, der eine Idee hat, walzt sie sein Leben lang aus, nur Picasso hat ungefähr fünf Ideen und walzt sie jeweils für zehn Jahre aus.
Heute läßt sich, was in den Galerien angeboten wird, nicht mehr von Designermöbeln unterscheiden, die ja auch möglichst keinen Zweck erfüllen, sondern bei Partygästen Fragen aufwerfen sollen. Jede neue Bildsprache erinnert nur an einen Video-Clip, den man noch nicht gesehen hat. Yves Klein hat sein Leben lang Leinwände blau angemalt und behauptet, der Himmel sei sein Meisterwerk, weshalb er über jedes Flugzeug beleidigt war. Das ist natürlich sehr originell und richtig, aber ich halte seine Leistung trotzdem für begrenzt.
So dachte ich, bis ich vor zwei Jahren in der großen Sophie-Calle-Ausstellung war und Werke wie »Countdown to Unhappiness« sah. Sophie Calle hatte ein dreimonatiges Japan-Stipendium bekommen und es, weil sie gerade frisch verliebt war, ausschlagen wollen. Sie beschloß, eine möglichst lange Anreise zu wählen, um möglichst wenig Zeit in Japan verbringen zu müssen, und nahm die transsibirische Eisenbahn. In der Ausstellung sieht man nun ihr Fototagebuch, in dem sie die neunzig Tage rückwärts zählt und jedes Bild ein Stempel schmückt: »90 days to unhappiness«, »89 days to unhappiness«, und so weiter. Sie fotografiert die Landschaft, Abteilnachbarn, einmal hat sie ein aufgeschlagenes Buch archiviert, ihre Reiselektüre dieses Tags. Dazwischen liest man Briefe an ihren Geliebten. Man spürt wie sie immer ungeduldiger die Tage zählt. Aber die Aktion heißt nicht umsonst »Countdown to Unhappiness«, denn einen Tag vor ihrem vereinbarten Treffen in New Dehli schreibt ihr der Geliebte, daß er nicht kommen wird, und im Hotel erhält sie einen Anruf, daß er sie verläßt. Deshalb ist ihr Reisetagebuch, ohne daß sie es geahnt hatte, ein Countdown ins Unglück gewesen.
Sie reagiert mit einer Aktion: »Countup to Happiness«. Denn sie bleibt in New Dehli und fotografiert jeden Tag das verfluchte Telefon, über das sie die Nachricht erhalten hatte. Neben das Bild kommt die Beschreibung dieses Moments. Immer der gleiche Bericht ein bißchen anders, wie man sich solche Dinge eben ständig wiederholt. Dazu protokolliert sie jeden Tag, was ihr ein Passant als seinen größten Schmerz im Leben schildert. Während ihr eigener Schmerz langsam nachläßt, wird die Schrift der Berichte immer blasser, bis am Ende nur die graue Fläche bleibt.
Die Ausstellung hat das Beste erreicht: daß man Lust bekommt, auch so etwas zu machen. Man braucht kein Geld, man muß nichts können, man muß nur Ideen haben.
Auf dem Nachhauseweg dachte ich mir Aktionen aus: Man könnte den Passagieren eines U-Bahnwagens ihre Lektüre abkaufen und alle zu einem Abend einladen, bei dem sie die Bücher der jeweils anderen lesen müssen.
Man könnte aus den Wohnungen seiner Freunde unbemerkt Gegenstände entwenden und daraus ein geheimes Schatzkabinett arrangieren.
Man könnte beim Großelterndienst anrufen und sich als Großvater für ein fremdes Kind verpflichten, denn dafür gibt es doch sicher kein Mindestalter.
In den nächsten Wochen empfahl ich jedem die Ausstellung mit dem Resultat, daß niemand hinging. Die Kunst hat sich anscheinend nachhaltig diskreditiert. Oder meine Empfehlungen waren nichts wert. Ich traf einen Bekannten, der selbst freischaffender Künstler ist. Er fand Sophie Calle »ganz gut«, es war ihm aber suspekt, daß sie sich »so wichtig nimmt«, ihr Privatleben auszustellen. Für mich ist es eher ein Zeichen dafür, daß mich jemand besonders wichtig nimmt, wenn er aus Schrott Objekte schweißt, sie an gutgläubige Gemeinden verkauft und auf diese Art öffentlichen Raum besetzt.
Die Gefangene, S. 442–462
» Jedesmal, wenn ich eine Tür gehen hörte, zuckte ich in ganz der Weise zusammen wie meine Großmutter in ihrer Agonie, sobald geläutet wurde. « Denn er muß immer befürchten, Albertine könnte ihn verlassen haben. Ach, wäre die Großmutter doch noch am Leben …
Überraschenderweise ist plötzlich von ein paar Blättern zwischen seinen Papieren die Rede, » in denen ich eine Erzählung über Swann und die Unmöglichkeit seines Verzichts auf Odette aufgezeichnet hatte «. Die Arbeit, an die er sich angeblich nie begibt, scheint also
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