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Schmidt Liest Proust

Schmidt Liest Proust

Titel: Schmidt Liest Proust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Schmidt
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ihm zurückzukehren oder ihm zu schreiben. Reicht das, um an ihrer Liebe zu zweifeln? Selbstverständlich.
    Und was hatte sie nun mit der Freundin von Mademoiselle Vinteuil? Angeblich hat sie ihr gutes Verhältnis übertrieben, um sich interessant zu machen, weil er über Vinteuils Kompositionen so begeistert gewesen war und sie sich zurückgesetzt fühlte. Aber gleich darauf sagt sie ein Wort, das ihn seitenlang nicht losläßt. Sie würde sich nicht mit den Verdurins treffen wollen, » dann wäre mir schon lieber, ich wäre einmal frei und könnte es mir besorgen … «. Errötet hält sie sich die Hand vor den Mund. Wie hätte sie den Satz beenden wollen? Hat sie ein » … lassen « unterdrückt? Er wird es nicht erfahren.
    Er will Schluß machen, angeblich, um ihr zuvorzukommen. Er verbietet ihr, ihm in diesem Leben wiederzubegegnen. (Daß ich das an dem Tag lese, an dem mit mir Schluß gemacht wurde, wer soll mir das glauben?) Und sie sagt: » Besser, als sich einen Finger nach dem andern abschneiden zu lassen, ist es, man legt gleich den Kopf auf den Block. «
    Dieser gerissene Wortklauber, Intrigant und Zwecklügner behauptet, die Lehrmeisterin solcher Doppelzüngigkeit sei gerade die Liebe, die einen zwinge, nie das zu sagen, was man empfindet, weil man damit nichts erreichen würde: » Was ich als Kind mir als das Süßeste an der Liebe vorgestellt hatte und was mir zu ihrem innersten Wesen zu gehören schien, war, daß man bei der Geliebten seine Zärtlichkeit, seine Dankbarkeit für ihre Güte, sein Verlangen nach einem immerwährenden gemeinsamen Leben freimütig verströmen könne. Aber auf Grund eigener Erfahrung sowie der meiner Freunde war ich mir nur allzuschnell darüber klargeworden, daß der Ausdruck solcher Gefühle keineswegs ansteckend ist. « Und auch ich werde den Teufel tun, noch einmal auszuplaudern, was ich empfinde.
    Erstaunliche Behauptung:
    – » [D]u weißt, daß ich nicht die Fähigkeit habe, mich lange zu erinnern. «
    141 . Do, 14.12., Berlin
    Oder Lutze, der in der Krebsforschung arbeitet, vielleicht, weil sein Vater an dieser Krankheit gestorben ist (auch wenn er das nie so sagen würde). Als Lutzes Freundin eine Stelle als Cellistin in London bekam, hat er sich dort ein Promotionsstipendium besorgt. Wenig später hat sie ihn verlassen, und er blieb allein in London. (Neulich hatte ich eine Diskussion, Menschen welcher Berufsgruppen schwieriger sind. Anscheinend eindeutig Musiker, danach Schauspieler, Tänzer, Maler und Schriftsteller.) In den Urlaub nach Griechenland mußte er jetzt allein fahren. Auf der Akropolis setzen sich zwei Tamilinnen neben ihn. Er zählt rückwärts, bis er den Mut faßt, sie anzusprechen. Bei »eins« fällt sein Blick auf seine nackten Arme und er fragt sie nach der Zeit. Sie gehen einen Kaffee trinken, dann verabschiedet er sich und bereut es sofort. Er nimmt sich vor, sie am nächsten Tag wie zufällig in der Altstadt zu treffen und tigert treppauf treppab von Restaurant zu Restaurant. Drei Tage hält er Wache auf der Akropolis. Er weiß, daß sie nach Mykonos wollten, doch er fährt auf seine Lieblingsinsel, auf der er einmal mit einer Freundin war, aber der Strand ist inzwischen zugebaut worden. Mit Ouzo und Wein verbringt er die Nacht auf einem Berg in einer leerstehenden Hütte. Er fühlt sich elend und fährt auf die Insel, auf die die beiden Tamilinnen am Ende ihrer Reise wollten, wo es den schönsten Sonnenuntergang der Welt gibt. Aber die Fähre verspätet sich um Stunden, und er sieht vom Schiff aus die Sonne versinken. Dann ist es wie eine Vorahnung, sie am Ende einer Straße zu treffen, und tatsächlich entdeckt er sie dort. Es stellt sich heraus, daß die beiden in Athen in einem deutschen Restaurant essen gewesen waren, und er hatte die griechischen abgesucht! Sie gehen in einen Irish Pub, und die beiden führen indische Tänze auf, so daß Griechen und Italiener sie umschwärmen. In dem Trubel steckt ihm die Richtige kommentarlos ihr Portemonnaie in die Brusttasche. Als sie gehen, summt sie unterwegs ein Lied aus der Bar. Er sagt, er achte bei Liedern nie auf den Text. Plötzlich nimmt sie ihm ihr Portemonnaie wieder weg und steigt in einen Bus. Er versteht die Welt nicht mehr, verbringt noch einen Tag auf der Insel und irgendwann fällt ihm das Lied aus der Bar ein: »Do you wanna come with me?« Er schlägt sich dreißig Mal mit der flachen Hand an die Stirn, fährt auf eine andere Insel, steigt dort auf den höchsten Berg und

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