Schmidt Liest Proust
welchem Jahr wir uns befinden.
Nach allen Regeln der Kunst wird intrigiert, um Morel von Charlus’ Falschheit zu überzeugen und die Trennung der beiden zu erreichen. Madame Verdurin harrt » mit Ungeduld der Emotionen «, die der geplante Schlag gegen Charlus ihr bereiten würde, auf den sie nicht einmal mehr verzichten könnte, wenn sie es sich noch einmal überlegen würde: » Es gibt gewisse, häufig auf den Mund beschränkte Wünsche, die, wenn man sie einmal hat anwachsen lassen, nach Befriedigung lechzen, welches auch immer die Folgen sind. Ebensowenig, wie man darauf verzichten kann, eine dekolletierte Schulter zu küssen, die man allzulange angeschaut hat und auf die schließlich die Lippen wie der Vogel auf die Schlange niederfallen, oder unter der Faszination des Heißhungers in ein Stück Kuchen zu beißen, kann man sich versagen, durch unvorhergesehene Mitteilungen Staunen, Verwirrung, Schmerz oder Heiterkeit in einer Seele zu entfesseln. « In eine dekolletierte Schulter könnte ich auch mal wieder beißen.
Unklares Inventar:
– Heliogabal, sich auf Französisch empfehlen.
Verlorene Praxis:
– Im Voraus von dem Drama trunken sein, das man heraufbeschwört.
Selbständig lebensfähige Sentenz:
– » Man erträgt nicht immer leicht die Tränen, die man anderen erpreßt. «
139 . Di, 12.12., Berlin
Wo man auch hinsieht, dieselbe Geschichte. Sogar die Beispielsätze aus dem Kapitel Verabredung/Flirt im Marco-Polo-Sprachführer »Polnisch« ergeben ein bedrückendes Dramolett, wenn man sich die fehlenden Repliken dazudenkt:
– »Hast Du für morgen schon etwas vor?« (»Co robisz jutro?«)
– …
– »Wollen wir zusammen hingehen?« (»Czy moglibysmy pojsc tam razem?«)
– …
– »Ich habe mich den ganzen Tag auf dich gefreut.« (Caly dzien cieszylem sie na spotkanie z toba.«)
– …
– »Du hast wunderschöne Augen.« (»Ty masz przesliczne oczy.«)
– …
– »Ich habe mich in dich verliebt.« (»Zakochalem sie wo tobie.«)
– »Es tut mir Leid, aber ich bin nicht in dich verliebt.« (»Przykro mi, ale ja nie jestem w tobie zakochana.«)
– »Gehen wir zu dir oder zu mir?« (»Czy pojdziemy do ciebie, czy do mnie?«)
– …
– »Ich möchte mit dir schlafen.« («Chcialbym sie z toba przespac.«)
– »Ich habe keine Lust dazu.« (»Nie mam na to ochoty.«)
– …
– »Hör sofort auf.« (»Natychmiast przestan!«)
– …
– »Aber nur mit Kondom.« (»Ale tylko z kondomem.«)
– …
– …
– »Darf ich dich nach Hause bringen?« (»Czy moge cie odprowadzic do domu?«)
– »Bitte geh jetzt.« (»Prosze idz teraz!«)
– …
– »Laß mich in Ruhe!« (»Prosze zostawic mnie w spokoju!«)
– …
– »Hau ab!« (»Odwal sie!«)
– …
Die Gefangene, S. 382–402
Was für ein Schlag! Als der nichtsahnende Charlus in bester Laune an Morel herantritt, bricht dieser öffentlich mit ihm. Einmal im Leben scheint Charlus seine Beredsamkeit im Stich zu lassen. » Was ihn verstummen ließ, war vielleicht (als er Monsieur und Madame Verdurin die Blicke wegwenden und niemand ihm zu Hilfe kommen sah) das gegenwärtige Leiden und vor allem das Grauen vor allem, was noch kommen würde. « Einen seiner hilfreichen Zornesausbrüche hätte er innerlich vorbereiten müssen, man hat ihn auf dem falschen Fuß erwischt. Statt dessen stammelt er, vor dem immer alle gezittert haben: » Was soll denn das bedeuten? Was ist denn los? « Und auch im Moment größter Erschütterung verfügt man als Mensch nur über ein begrenztes Arsenal von Ausdrucksmöglichkeiten. Man könnte sich auch Masken aufsetzen: » Die ewige Pantomime panischen Schreckens aber hat sich so wenig gewandelt, daß dieser alte Herr, dem in einem Pariser Salon ein unangenehmes Erlebnis zustieß, unbewußt in das Schema der nur wenige Figuren umfassenden Attitüden verfiel, in welchen die griechische Bildkunst der ersten Jahrhunderte das Entsetzen der vom Gotte Pan verfolgten Nymphen stilistisch festgelegt hat. «
Rührend, wie die Königin von Neapel noch einmal erscheint, um ihren vergessenen Fächer zu holen, die Szene überblickend sofort alles durchschaut, die Verdurins durch Nichtachtung straft und ihrem armen, alten Vetter den Arm reicht: » Lehnen Sie sich auf meinen Arm. Seien Sie gewiß, daß er Sie immer stützen wird. « Ach, wie schön es sein muß, noble Freundinnen zu haben, die so vergeßlich sind, daß sie immer noch einmal auftauchen, wenn man sie braucht.
Anders als man hätte
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