Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schmidt Liest Proust

Schmidt Liest Proust

Titel: Schmidt Liest Proust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Schmidt
Vom Netzwerk:
Hoffnung aus einem Nichts, auf die konstruierteste Weise: Wenn sie einen Unfall hätte, » so hätte ich, anstatt daß mein Leben für immer von dieser nie endenden Eifersucht vergiftet wäre, auf der Stelle nicht vielleicht gerade das Glück, aber doch durch Beendung des Leidens die Ruhe wiedergefunden «. Eine etwas hastig hingeworfene Andeutung, denn wenig später wird ja genau das passieren. Und natürlich kurz vor der Versöhnung. Er schickt Albertine ein Telegramm und formuliert seine Bedingungen neu: » Sie könne tun, was sie wolle, ich bäte sie einzig darum, mich dreimal in der Woche, bevor sie schlafen gehe, eine Minute zu küssen. « Diese drei Küsse würden sich für sie rechnen …
    Aber nun kommt die Wendung, die etwas nach Drehbuchseminar klingt: Albertine ist bei einem Ausritt gegen einen Baum geschleudert worden. Sofort wird Marcel klar, daß er nie ganz daran geglaubt hatte, daß sie nicht wiederkehren werde. » Mein ganzes zukünftiges Leben war aus meinem Herzen gerissen. « Wie es das Drehbuch verlangt, treffen auch noch zwei posthume Briefe von ihr ein. Im ersten beglückwünscht sie ihn zu seinen Plänen mit Andrée. Aber im zweiten fleht sie ihn an, ihn zu sich zurückzurufen. Damit ist das Melodram vollkommen, das Glück war greifbar und es ist ihm entglitten.
    Und natürlich hilft ihr Tod ihm nicht weiter: » Damit der Tod Albertines meine Leiden hätte hinfällig machen können, hätte der Unglücksfall sie nicht nur in der Touraine, sondern auch in mir selbst ums Leben bringen müssen. Niemals aber war sie gerade dort lebendiger gewesen. « Bilder von ihr erscheinen vor seinem inneren Auge wie bei Old Shatterhand, als er den sterbenden Winnetou in den Armen hält und an glücklichere Tage denkt: » Um mich zu trösten, hätte ich nicht eine, sondern unzählige Albertinen zu vergessen nötig gehabt. « Das » durch die Reizwirkung identischer Augenblicke unaufhörlich erneuerte Wiederaufleben irgendwelcher früher durchmessenen «, das ihm in seiner Einsamkeit immer ein Vergnügen gewesen war, wird jetzt zum täglichen Spießrutenlauf. Das Geräusch des Regens (Einnerung an Combray), das Spiel der Sonne auf dem Balkon, die erfrischende Kühle von Kirschen, das Rauschen des Windes (Bretagne), die Osterzeit (Venedig). Es wird Sommer, und er liegt in seinem verdunkelten Zimmer, wo schon ein durch die Vorhänge dringender Lichtstreifen ihm einen unterdrückten Schrei abzwingt, weil er ihn an einen Sonnenstrahl erinnert, den er mit Albertine gesehen hat. So gehen tausend Erinnerungen in jedem Augenblick » im Dunkel ringsumher auf mich nieder «. Und es gibt noch kein Fernsehen, selbst die Kinobilder sind noch wacklig und schwarz-weiß, also keine große Hilfe dabei, » meinem Gedächtnis Augen und Ohren zu verstopfen «. Françoise ist zwar offenbar glücklich über Albertines Tod, aber: » In ihrem Bemühen, meinen Tränen Einhalt zu gebieten, wirkte sie derart besorgt, als handle es sich um Ströme von Blut. « Und manche haben noch nicht mal eine Haushälterin.
    Wollte er die Erinnerung an Albertine auslöschen, müßte er die Jahreszeiten vergessen und alles von neuem kennenlernen, » so wie ein von halbseitiger Lähmung betroffener Greis noch einmal lesen lernt; ich hätte auf das ganze Universum vorerst einmal Verzicht leisten müssen «. Am besten, man fährt für seine Liebesgeschichten nach Neukaledonien oder ins ewige Eis, dann hält sich der spätere Assoziationsterror vielleicht in Grenzen.
    Eine Frage stellte sich mir heute: Wo ist eigentlich Marcels Vater? Seit ein paar Bänden scheint er wie vom Erdboden verschluckt. Ich hoffe, meine Verwandten gehen einmal anders mit mir um.
    Verstorben:
    – Albertine.
    Verlorene Praxis:
    – Die Augen eines Menschen haben, dessen Geist aus den Fugen gerät.
    149 . Sa, 23.12., Berlin
    »Deconstructing Harry« war immer einer meiner Lieblingsfilme von Woody Allen gewesen (im übrigen beschreibt er darin den Vorzug von Prostituierten: »Man muß nicht über Proust und Filme diskutieren …«), jetzt kann ich den Film kaum ertragen, ein ständiges Fremdgehen und sich gegenseitig jemanden Ausspannen und im Mittelpunkt ein gequälter, zur Lieblosigkeit verurteilter Mensch, dessen Trost in seiner Fähigkeit liegen soll, Geschichten zu erzählen. Was für ein erbärmlicher Ersatz für die Realität eines geliebten Menschen. Welchen Sinn hat es, immer alles zu sublimieren, damit dann fünfhundert Leute ein Buch kaufen, das vielleicht noch nicht

Weitere Kostenlose Bücher