Schmidt Liest Proust
Springerstiefel. An der Wendeschleife standen Plattenbauruinen mit leeren Fensterhöhlen im diesigen Nebel. Die Bahn verschwand und kam so schnell nicht wieder. Carl sieht auf dem Video so traurig aus, als würde er auf den Kindernotdienst warten. Die Aufnahmezeit stand auf »1 h 08 min«.
Mist, jetzt macht meine Schwester die Weihnachtsmusik an (»Jauchzet, frohlocket, auf preiset die Tage«), das ist das Signal für die Bescherung und wir müssen uns dem Alter nach aufstellen und dürfen im Gänsemarsch ins Weihnachtszimmer. Meine Schwester singt und ist als Engel verkleidet. Ich bin die drittälteste, daran hat sich seit meiner Geburt nichts geändert, nur wurde die Schlange nach vorne immer länger. Ich stehe inzwischen ziemlich weit hinten und habe so noch Zeit für zwei Sätze:
Lieber Jochen: Frohe Weihnachten! Und laß Dir einen guten Rat von einer älteren Frau geben: Such nicht nach dem Meister, such nach Margarita.
In diesem Sinne
Annett
Dieses Schreiben wurde maschinell erstellt und ist ohne Originalunterschrift gültig.
Die Entflohene, S. 119–129
Jetzt weiß ich auch wieder, warum ich über den ersten Band der »Suche nach der verlorenen Zeit« nicht hinausgekommen bin, obwohl ich doch »Der Mann ohne Eigenschaften«, die »Ästhetik des Widerstands« und sogar »Ulysses« geschafft habe. Ich habe »Combray« angefangen, aber die Lektüre auf Seite 66 abgebrochen, dort steckt jedenfalls der Fahrschein, der als Lesezeichen diente. Einer aus einer Zahlbox der BVB, ist also fast zwanzig Jahre her, daß ich das Buch weggestellt habe. Ich denke, ich fand Marcel doch seltsam überspannt und voller Vorurteile in seiner eitlen Ich-Bezogenheit. Eigentlich sind immer die anderen schuld. Zum Beispiel Albertine. Man könnte sie ja mit heutigen Maßstäben für eine Metrosexuelle halten. Die Beziehung zu Marcel war ihr nicht genug, wahrscheinlich hat er die ganze Zeit nur über sich geredet, also hat sie sich eben zur Abwechslung noch mit Frauen vergnügt. Unter der Dusche. Allerdings ist eine einzige Zeugin dafür, die von Aimé bestochene Badefrau, doch ein wenig dürftig, aber Marcel nimmt ja jeden kleinen Strohhalm, um leiden zu können, obwohl er gleich am Anfang meint, daß seine Beziehungen und sein Vermögen es ihm erlassen würden zu leiden, » dieser Vorteil werde mich auch darum bringen zu fühlen, zu lieben und meine Phantasie zu betätigen; ich beneidete ein armes Mädchen vom Lande, dem das Fehlen aller Verbindungen und sogar eines Telegraphenbüros lange Monate des Träumens nach einem Kummer schenkt, den es nicht mit künstlichen Mitteln zu betäuben vermag «. Danach folgt übrigens ein Satz, der das Herz jedes Grammatikers höher schlagen läßt: sechzehn Zeilen, ein Ungetüm aus Hauptstraßen und Nebenpfaden, dem Stadtplan einer mittelalterlichen Stadt mit Winkeln und Gassen gleich, wo man leicht die Orientierung verliert. Wahrscheinlich gibt es zig Doktorarbeiten allein über dieses Satzungetüm. Und das alles nur wegen des oppositionellen, unbeugsamen Willens Albertines, über den kein Druck etwas vermocht hatte. Diese Empörung zwischen den Zeilen! Albertine, dieses untreue Wesen, die dann folgerichtig sterben muß und die, so glaubt der Held, jetzt noch leben würde, wenn sie Marcel nicht hintergangen hätte. Dabei hat der Gute sich selbst nicht entscheiden können zwischen den Gilbertes, Albertines, Andrées und all den Mademoiselles. Er hegt eine Verachtung für Frauen, die sich von ihm trennen, um dann doch wieder zurückzukehren, und himmelt jene an, die ihn für immer verlassen. » Denn sehr oft ist, damit wir entdecken, daß wir verliebt sind, vielleicht sogar, damit wir es tatsächlich werden, erst einmal notwendig, daß der Tag der Trennung erscheint. « (So oft ich mich an diesem Tag geärgert habe, daß ich ausgerechnet Heiligabend als Schreibtag vorgeschlagen habe, so muß ich doch sagen, es ist gut, Jochen, daß Du in Deinem Zustand das gerade nicht lesen mußt. Du würdest sonst noch die Kunst mit der Realität verwechseln. »Aber bist du denn wahnsinnig? In was für neuen Vorstellungen lebst du, noch dazu unter so vielen Schmerzen? Alles das ist ja doch das wirkliche Leben nicht«, sagt der Verstand bei Proust.) Marcels Rechnung, daß Albertine eine leichte Beute wäre, war nicht aufgegangen. Gerade Albertine, die im Gegensatz zu Madame de Guermantes arm und unbekannt war und eher darauf bedacht gewesen sein musste, ihn zu heiraten, hatte sich ihm entzogen. Ganz klar, es
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