Schmidt Liest Proust
(melas cholé), vielleicht bräuchte ich aber auch nur mal wieder Sex. Andererseits ist man hinterher meistens genauso melancholisch, also wozu der Aufwand? Melancholie ist ja kein Defekt, sondern die Konsequenz jeder geistigen Auseinandersetzung mit unserer Existenz. Aber wir haben diesen philosophischen Zustand zur »endogenen Depression« degradiert, die »Mönchskrankheit« ist zur Volkskrankheit geworden. Es ist deprimierend zu erfahren, daß man als Melancholiker nichts als ein Mitläufer ist.
Beunruhigendes stand heute in der Zeitung: Grönland, also ein Land, das so dünn besiedelt ist, daß man ihm kaum mit einem Bombenkrieg drohen können wird, hat angekündigt, verstärkt den Narwal zu jagen. Im Mittelalter hat man Pulver vom Stoßzahn des Narwals (der sich diesem Tier durch die Oberlippe schraubt, bis zu zehn Kilo wiegt und drei Meter lang wird) als Mittel gegen die Melancholie verwendet. Man wußte nicht, wozu der Zahn dem Narwal diente, also lag es nahe anzunehmen, daß er von der Natur als Medizin für die Menschen gedacht war. In Renaissance-Schatzkammern wurde er aufbewahrt, wie auch ein anderes Gegenmittel, der Bezoarstein, eine kugelförmige Mineralisierung unverdauter Fasern aus dem Magen von Wiederkäuern. So etwas hatten wir zu Hause in unserem Museumsschrank, ich habe aber nie versucht, daran zu nagen, ich wäre eine Art Obelix der Seelenruhe geworden. Vielleicht hilft gegen Melancholie ja alles, was hinreichend schwer zu beschaffen ist, wie zum Beispiel ein Ticket für das Finale der Champions-League oder Gruppensex mit den Pussycat Dolls? Solange man weder das noch eine Dose Narwalzahnpulver auftreiben kann, bietet sich fremdes Elend zum Trost an, wie etwa der Weltschmerz alternder Menschen in Tschechow-Stücken. Aber Tschechow ist auch nicht ungefährlich, denn wenn ich ihn lese, befällt mich schnell der Verdacht, daß ich vielleicht nie so etwas Schönes schreiben werde. Mein Talent als Autor reicht gerade dazu zu erkennen, wieviel besser Tschechow war.
Die Entflohene, S. 25–46
Wenn sich der Band so fortsetzt, dann widmet er sich einem der für Außenstehende ermüdendsten Themen: den endlosen Überlegungen eines frisch Verlassenen. Die Sache ist gelaufen, will man ihm sagen, hak es ab. Aber in der Verleugnungsphase wird jede von Albertines Gesten noch einmal einer Revision unterzogen und jedes Wort nach einer versteckten Bedeutung abgeklopft auf der Suche nach Hinweisen dafür, daß sie ihn in Wirklichkeit gar nicht verlassen hat.
Man muß Schritte unternehmen, denn das tröstet, weil kurzzeitig wieder Hoffnung aufkommt. Saint-Loup wird herbeizitiert, der gute Freund. Er soll zu Albertines Tante fahren und ihr die Hochzeit ihrer Nichte mit Marcel in Aussicht stellen. Damit er weiß, von wem die Rede ist, bekommt er ein Foto der Frau gezeigt, die seinen Freund in solch einen jämmerlichen Zustand versetzt hat. » Da er in mir ein höheres Wesen sah, stellte er sich vor, daß ein Geschöpf, dem ich so ergeben war, etwas ganz Außergewöhnliches sein müsse. « Da sieht man, wie wenig er von Marcels künstlerischer Programmatik verstanden hat, im Grunde ist die reale Gestalt der Frau für diesen so nebensächlich, daß man sich fragt, warum er die Frau nicht wirklich per Zufall aus dem Telefonbuch ausgewählt hat, um ihr seine Liebe zu schenken. Saint-Loup kann sich aber für Marcel nur eine Art Minnedienst vorstellen: » Ich bin ihr böse, daß sie dir Kummer macht, aber man kann sich ja denken, daß ein Wesen wie du, das künstlerisch bis in die Fingerspitzen ist und in allem die Schönheit so leidenschaftlich liebt, vorbestimmt sein muß, mehr als ein anderer zu leiden, wenn sie ihm in einer Frau entgegentritt. «
Als Saint-Loup das Foto erblickt, ist er sogar noch schockierter, als wir gedacht hätten: » Sein Gesicht drückte eine Bestürzung aus, in der er fast töricht wirkte. « Das ist bisher der einzige Hinweis darauf, wie attraktiv Albertine wirklich ist, denn bis jetzt kennen wir sie ja nur aus Marcels widersprüchlichen Schilderungen. (Es sei denn, der törichte Gesichtsausdruck bedeutet, daß Saint-Loup in ihr eine seiner früheren Affären wiedererkannt hat.)
Ist sie wirklich häßlich? Jedenfalls verliert das mit der Dauer einer Beziehung an Bedeutung, weil man Sinneseindrücke mit ihr verbindet. Die Frau ist am Ende eines solchen Prozesses » nur der Entstehungskern einer unermeßlichen Konstruktion, die sich über der Ebene meines Herzens erhob «.
» Lassen wir
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