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Schmidt Liest Proust

Schmidt Liest Proust

Titel: Schmidt Liest Proust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Schmidt
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Françoise beim Aufräumen einer Schublade in Albertines Zimmer zwei Ringe mit eingraviertem Adler. Geschenke von einem fremden Mann? Marcel ist, als hätte er statt Veronaltabletten Koffeintabletten genommen. Der Schnabel des Adlers hält sein Herz in den Zangen, die Flügel tragen das Vertrauen fort, in den Fängen schmachtet sein verwundeter Geist!
    Ihr schließlich eintreffender Antwortbrief enthält (für uns unbeteiligte Leser) nichts Hoffnungspendendes. Aber ihn inspiriert er zum nächsten Schritt. Er kündigt ihr an, mit Andrée leben zu wollen. Sie so zu belügen, scheint ihm das einzige Mittel, sie zur Rückkehr zu bewegen. Ein Schlagabtausch auf höchstem Niveau.
    Verlorene Praxis:
    – Sich als Frau beim Freund mit Vorzügen anreichern, die einen zu einem vollkommeneren Wesen umgestalten.
    148 . Fr, 22.12., Berlin
    Verlorenes Glück hat auch seine stolze Seite. Man konzentriert sich wieder auf die lange vernachlässigte Welt. Unter den Linden, nachts auf dem Fahrrad, wenn die Bäume mit Lichterketten geschmückt sind, die Erinnerung daran, wie man hier als Kind manchmal zehn Minuten auf eine Lücke im Verkehr gewartet hat, um die Straße zu überqueren und in einem trübe beleuchteten Raum im Hauptgebäude der HU bei der Mathematischen Schülergesellschaft Aufgaben zu lösen. Wir waren fast nur Jungs, die Mädchen gingen in den Chor oder zum Russischklub, und ich konnte ja nicht wissen, daß mich diese Sprache zwanzig Jahre später einmal interessieren würde. Sie machen es einem leicht, sich in seine Erinnerungen zurückzuziehen, wenn sie Gebäude wie den Palast der Republik schon zu meinen Lebzeiten abmontieren wie eine Kulisse, die nicht mehr gebraucht wird.
    Bei Dussmann vor dem Regal mit Fernsehserien. Ich hätte meine Kindheit mit etwas anderem verbringen und mir die Serien jetzt, wo ich so lange aufbleiben darf, wie ich will, am Stück ansehen können. Wenn man sich vorstellt, daß es diese Schätze noch nicht geben würde und man Woche für Woche auf die neue Folge warten müßte! Die Gnade der späten Geburt. Und was wird es in fünfzig Jahren geben, wovon wir noch nichts ahnen? Oder wird das Fernsehen dann auch ein sterbendes Medium sein, wie heute die Oper, und niemand schaltet mehr ein?
    Warum man gerade in der Schlange bei Dussmann, wo sie ohne etwas leisten zu müssen, das Geld tausender Kunden entgegennehmen – die sogar anreisen, um es persönlich abzuliefern, anstatt daß derjenige, der es haben will, sich zu ihnen bemüht –, die Nerven verliert und bei ihr anruft, obwohl ein so selten gewordenes Gespräch doch gut vorbereitet sein sollte. Und wenn dann keiner rangeht, merkt man gleich, daß man noch keinen Schritt weiter war, weil man immer noch Hoffnungen hatte. Vielleicht sollte ich bei den »Sopranos« einsteigen, das wären noch einmal neunzig Stunden Realitätsflucht, jetzt wo ich mit »Curb« durch bin.
    Meine Schrumpfform von Glück wird sich wieder einstellen, wenn die intellektuelle Neugier das Regime übernimmt, wenn man wieder ein zurückgezogenes Leben mit Büchern und seltenen Ausflügen in die Realität führt. Für bestimmte Zeiten geht das ja auch. Im Film werden schrullige, herzensgute Intellektuelle immer gegen ihren Willen von sagenhaft schönen Frauen wachgeküßt und entdecken durch sie eine Wahrheit, die ihnen in den Büchern verborgen geblieben war. Wahrscheinlich, weil diese Filme genau von solchen Typen geschrieben werden. Was einen zur Zeit quält, sind alle Formen von Formen in der Öffentlichkeit, wie die Plakate für diese Berliner Erotik-Show mit Luxus-Anspruch. Und die New-Yorker-Werbung aus dem Kino: eine junge Frau heiratet einen reichen, alten Mann, in der Hochzeitsnacht erspäht er durchs Schlüsselloch, wie sie in Unterwäsche auf dem Bett tanzt. Die Vorfreude führt bei ihm zum Herzinfarkt, das Anwesen gehört ihr. Wie zynisch, über sexuelles Verlangen Witze zu machen, man wirbt auch nicht mit den Qualen eines Alkoholikers für Bier. Ich bin natürlich der alte Mann. Und es würde nichts nützen, in den Tavernen der Stadt ein Heer von Griechen auszuheben, um ihr Haus zu belagern, weil die Frau heutzutage selbst entscheiden darf, in welchem Land sie Königin sein will.
    Die Entflohene, S. 67–88
    Auch Proust spricht von einem Schmerz, » der aus Mangel an konkreten Bildern erträglich war «. Warum will man dann wissen, was sie macht, wer einen ersetzt hat und wie es ihr geht? Man würde die Wahrheit gar nicht ertragen. Der Kranke zieht seine

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