Schmidt Liest Proust
yeux se fermaient si vite que je n’avais pas le temps de me dire: ›Je m’endors.‹« Da ich ständig und ganz profan auf der Suche nach der verlorenen Zeit bin, kam mir die Uhr gerade recht. Man sah damit auch wesentlich kulturbeflissener aus als mit der Geschenkabo-Uhr der Zeitschrift RUND, auf deren Zifferblatt sich die Zeiger um ein Stück Rasen drehen. Mit der Übersetzung ließen sich langweilige Minuten überbrücken. Irgendwie fehlte mir aber immer eine der bei Madame Scheibe im Französischunterricht der Humboldt-EOS gelernten Vokabeln, die sich aus meinem Gehirn verabschiedet hatte oder nie dort angekommen war. Auf den Gedanken, mal in der deutschen Ausgabe nachzusehen, bin ich nie gekommen. Leider legte sich die Uhr nach zehn Jahren die Angewohnheit zu, nur noch zu gehen, wenn sie sich an meinem Handgelenk befand. Sie blieb augenblicklich stehen, wenn ich sie ablegte. Jetzt ist sie im Ruhestand und hängt an der Erkerwand unter dem Hochwasserpanoramafoto des Magdeburger Werders, aufgenommen in der Minute, als das Hochwasser zum Stillstand kam und wir im Anschluß an die Aufnahme die Sachen meiner Schwester wieder aus dem Treppenhaus in die Hochparterrewohnung schleppen konnten. Und auf ebendieser Insel befinde ich mich gerade. Das Wasser der Elbe schleppt sich träge und ordentlich im Bett befindlich in Richtung Hamburg. Es ist so neblig, daß der Dom am anderen Ufer nicht zu sehen ist.
Fast jeder aus meiner Familie, der hier an meinem Computer vorbeigeht und beiläufig mitliest, fragt, ob ich schon «Little Miss Sunshine» gesehen habe. Habe ich nicht. Das muß so eine Art Abschreckung für Leute sein, die sich ernsthaft mit Proust beschäftigen wollen. Man soll auf lange Dauer selbstmordgefährdet sein (was sich ja gestern irgendwie auch so halb bestätigt hat, hey Jochen, geht’s dir wieder besser?).
Ich muß keine Madeleine in meinen Tee tauchen, um mich zu erinnern, ich bin am Ort meiner Kindheit und Jugend wie jedes Jahr Heiligabend, das spart den Weihnachtsbaum in der eigenen Wohnung. Hier falle ich, wo ich gehe und stehe über temps perdus und Erinnerungen an all die Marcels und Albertines und Saint Loups und watweeßickewennoch. Sie hießen damals aber Jens, Thomas, Simone oder Antje, während sich mein Sohn und seine Freunde nach Annas, Lenas, Ronjas, Saras oder Antonias verzehren, die heutzutage praktischerweise per SMS Schluss machen. Mich wundert, dass es neben JA und NEIN und ICH KOMME ERST UM … nicht schon die vorformulierte Antwort LASS UNS FREUNDE BLEIBEN in diesen Handys gibt.
Heute nachmittag bin ich mit meinem Neffen Carl (9), der superschlau ist, aber noch an den Weihnachtsmann glaubt, mit der Linie 4 von einem Ende der Stadt zum anderen Ende gefahren, da lagen am Straßenrand und am Ufer der Elbe 136 Madeleines, 56 davon hatte ich schon in Texten verwendet. Ich gab ein paar zum besten, zum Beispiel die Geschichte von der aufgedunsenen Wasserleiche in der Alten Elbe, die wir beim Taubenfüttern auf dem Weg vom Hort nach Hause entdeckten, und die, warum die Sandsteinputten der Anna-Ebert-Brücke bis auf den Löwen alle im Wasser der Alten Elbe liegen, aber die erzähle ich jetzt nicht.
Eine Haltestelle weiter fiel mir auf, dass ich die seltsame und unwillkürliche Angewohnheit habe, Schauplätze fremder Bücher an Stellen zu verorten, die zu meinen persönlichen Erinnerungen gehören. Es fiel mir deswegen ein, weil ich auf dem Weg nach Cracau an der Karl-Marx-Schule vorbeikam (heute heißt sie, folgerichtig, nach Immanuel Kant) und mir einfiel, daß ich immer, wenn ich Uwe Johnson lese, an diese Schule denke. Ja, ein Teil der Mecklenburger «Jahrestage» spielte in meinem Kopf auf dem Schulhof der Karl-Marx-Schule. Armer Johnson – das Ensemble ist scheußlich. Es wurde in der Nazizeit aus roten Klinkersteinen in Anlehnung an die Burgen in Mitteldeutschland gebaut. In der Mitte ein abgesenkter Thingplatz. Hierhin wurden immer die Schüler meiner Schule strafversetzt, wenn sie Hakenkreuze in die Schulbänke geritzt hatten. Ich kann mir nicht vorstellen, daß sie in dieser Schule davon geheilt wurden.
Auf dem Rückweg fuhren wir mit der 4 über die Strombrücke. Das Bauwerk ist so alt wie ich und schon auf Dauer halbseitig gesperrt. Wir hatten Zeit, denn wir durften erst wiederkommen, wenn der Weihnachtsmann weg war. Also machten wir noch einen Abstecher zur Endhaltestelle der 4 in Neu-Olvenstedt, wo sämtliche Jungs, die einstiegen, uniformiert waren: Glatze, Lonsdale,
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