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Schmidt Liest Proust

Schmidt Liest Proust

Titel: Schmidt Liest Proust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Schmidt
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einmal gut ist? Aber anderen geht es nicht besser, und sie haben noch nicht mal die Möglichkeit, sich durch Schreiben Luft zu verschaffen. Aber ist es wirklich so, verschafft man sich Luft oder reitet man sich nur immer tiefer rein, wenn man in der Vorstellung lebt, Leiden würden einen zu einem tieferen Menschen und damit auch zu einem besseren Autor machen? Eine masochistische Illusion, diese Manie, seine Fehler schönzureden. Wann hat das angefangen, daß man sich damit tröstete, alles als Material zu sehen? Ein Mann der Tat sein, mit einer Narbe im Gesicht, deren Geschichte niemand erfährt, statt jemand, der schreibt und den Glücklichen nachwinkt.
    Die Entflohene, S. 88–102
    Inzwischen zieht sich sein Herz schon beim » Glucksen der Dampfheizung « zusammen, weil es ihn an den Nachmittag von Albertines Besuch bei ihm erinnert, als er sie das erste Mal geküßt hat. Man muß wirklich aufpassen, mit wem man sich einläßt und was einen später an ihn erinnern wird, wenn man zum Beispiel von einem Bäcker verlassen wird, wird man den Geschmack von Brot nicht mehr ertragen.
    » Immer auch hatte ich, aus Furcht, Albertine zu verderben, an Abenden verständnislos getan, an denen sie mir Formen der Lust anzubieten schien, die sie vielleicht nicht bei anderen gesucht hätte und die jetzt ein wütendes Verlangen in mir weckten. « Das kommt überraschend. Er hätte auf Formen der Lust verzichtet, um sie nicht zu verderben? So kennen wir ihn gar nicht.
    » Die Kunst ist nicht das einzige, was die unbedeutendsten Dinge mit dem Zauber und Geheimnis zu umhüllen vermag; die gleiche Macht, sie in tiefinnerliche Beziehung zu uns zu setzen, ist auch dem Schmerz gegeben. « Noch mehr davon, und ich gehe in die Knie. Ich war schon drauf und dran, mir ein Leben ohne seelischen Schmerz zu wünschen, » denn eine Frau ist von großem Nutzen für unser Leben, wenn sie darin anstatt eines Glückselements für uns ein Werkzeug des Leidens ist, und es gibt keine einzige, deren Besitz so köstlich ist wie der jener Wahrheiten, die sie uns entdeckt, indem sie uns leiden macht «. Ein Besitz, auf den ich gerne verzichte, dann werde ich eben nicht unsterblich, aber dafür lebe ich wenigstens ohne den Wunsch, vor meiner Zeit zu sterben. Wenn es nicht ohne Erinnerungen an sie geht, die sich anfühlen, » wie ein Chirurg, dessen Hand etwa nach einem Geschoß in unserem Herzen sucht «, schreibe ich in Zukunft lieber für den Kicker statt für das Marbacher Literaturarchiv.
    Die eigenartige Übertragung der eigenen Zärtlichkeitswünsche auf den anderen: » Wenn wir von der ›Liebenswürdigkeit‹ einer Frau sprechen, projizieren wir vielleicht nur das Vergnügen aus uns heraus, das wir bei ihrem Anblick empfinden, wie Kinder es tun, wenn sie sagen: ›Mein liebes Bettchen, mein liebes Kopfkissen‹« . Am Ende hat man noch Mitleid mit ihr, weil sie mit einem Schluß gemacht hat und man sich vorstellt, wie schwer ihr die Entscheidung gefallen ist, statt sich klar zu machen, daß sie jetzt ein Problem weniger hat.
    An dieser Stelle muß ich heute abbrechen, ich schaffe es nicht, die letzten sieben Seiten zu lesen. Ich kann mich nicht konzentrieren und habe auch das Gefühl, daß ich mich mit Proust vergifte. Sie heute anzurufen und wiederzusehen, war natürlich ein Fehler gewesen. Ich dachte, ich hätte mich im Griff, und jetzt fühlt man sich, als würden einem die Innereien ausgewrungen. So hat man also seinen Meister gefunden und denkt mal wieder, daß es nie so schlimm war, obwohl man weiß, daß es immer am schlimmsten ist. Natürlich war man gerade deshalb von ihr angezogen, weil ihr »Verhängnis« auf die Stirn geschrieben war. Vielleicht gehört Reife dazu, den zu lieben, von dem man geliebt wird.
    Verlorene Praxis:
    – Sein Unrecht darin sehen, nicht stärker den Versuch gemacht zu haben, sie in sich selbst zu begreifen.
    Selbständig lebensfähige Sentenz:
    – » Und doch zuckt aus der Schwäche, die man jahrelang mit sich schleppt, zuweilen einem Blitzstrahl gleich etwas wie Tatendrang auf. «
    150 . So, 24.12., Berlin
    Annett Gröschner hat sich für ihren Gastbeitrag den Weihnachtstag gewünscht .
    Heiligabend zu Gast bei Jochen (virtuell) und in Magdeburg-Werder, Mittelstraße (ernsthaft)
    Lange Zeit hatte ich eine Armbanduhr, auf deren Ziffernblatt die ersten zwei Sätze aus Prousts »À la recherche du temps perdu« gedruckt waren: » Longtemps, je me suis couché de bonne heure. Parfois, à peine ma bougie éteinte, mes

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