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Schmidt Liest Proust

Schmidt Liest Proust

Titel: Schmidt Liest Proust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Schmidt
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die hübschen Frauen den Männern, die über keine Phantasie verfügen! « Hier bietet sich ein doppelter Umkehrschluß an:
    1. Sieht man jemanden mit einem auffallend unattraktiven Partner, kann man spekulieren, worin dessen sonstige Qualitäten liegen.
    2. Sieht man jemanden mit einem ungewöhnlich attraktiven Partner, kann man schließen, daß er selbst ein oberflächlicher Mensch ohne Phantasie ist.
    Nicht einmal die frisch eintreffende Liebeserklärung einer Nichte der Herzogin von Guermantes, des hübschesten jungen Mädchens von Paris, noch dazu einer Adligen, kann ihn aufheitern, sobald » ich erwacht war und meinen Kummer an der Stelle, an der ich vor dem Einschlafen stehengeblieben war, wieder aufschlug gleich einem vorübergehend zugeklappten Buch, dessen Lektüre mich nun bis zum Abend begleiten würde «. 37mal klappen wir noch zu …
    Verlorene Praxis:
    – Damit prunken, einer Schönheit zu gebieten.
    – Der geliebten Frau bis zur Stunde, da sie einschläft, das Haar ordnen und wieder lösen.
    147 . Do, 21.12., Berlin
    Im Land der ungebremsten Leidenschaften arbeitet niemand, weil es zu gefährlich wäre, einem Verliebten ein Werkzeug anzuvertrauen, ihn ein Fahrzeug lenken oder Fenster putzen zu lassen. Wem nützen Straßenfeger, die sich während der Arbeitszeit nachdenklich auf ihre Besen stützen? Der Service ist schlecht, das Essen immer versalzen, den Friseusen mißglücken die Frisuren. Alle lassen dauernd alles fallen, deshalb ist Plaste der beliebteste Werkstoff. Männer werden vermißt, weil sie fremden Frauen nachlaufen und den Rückweg nicht finden. Die Frauen können von den Geschenken leben, die ihnen von anonymen Verehrern gemacht werden. In den Parks findet man sich spontan zusammen, um sich mit speziellen Dehnübungen Linderung zu verschaffen. Alkohol ist verpönt, weil es als unehrenhaft gilt, seine Gefühle zu betäuben. Bricht jemand in Tränen aus, sagt man »Liebe!«, so wie man anderswo »Gesundheit!« sagt, wenn jemand niesen muß. Lange habe ich mich in diesem Land bewegt wie ein Arzt unter Pestkranken. Ich habe die Verheerungen der Leidenschaft studiert und jungen Männern aufmunternd gegen die Brust gepufft. Eine Geste, zu der ältere Herren neigen, die beim Militär waren.
    Die Entflohene, S. 46–67
    Saint-Loups Besuch bei ihrer Tante bleibt von Albertine nicht unbemerkt, sofort schreibt sie Marcel, er solle solche Schritte unterlassen. Dieser antwortet ihr ausufernd. Mit diplomatischem Geschick wird die Jacht erwähnt, die er ihr kaufen will, auch das schöne Automobil, was soll er jetzt damit anfangen? Ihr zu schreiben ist natürlich nicht das richtige Mittel, sie zu vergessen. » Doch das psychopathologische Universum ist so fatal konstruiert, daß die ungeschickte Handlung, diejenige, die man vor allem vermeiden müßte, gerade die beruhigende ist, die Handlung, die für uns, bis wir das Ergebnis kennen, neue Perspektiven der Hoffnung eröffnet und uns für kurze Augenblicke von dem unerträglichen Schmerz befreit, den eine Weigerung in uns hat aufkommen lassen. «
    Er bietet ihr also seine Hand an. Aber was, wenn sie einwilligt? Sofort fallen ihm wieder die mit einer Ehe verbundenen Kalamitäten ein, und er überlegt, ob er den Brief zurückbeordern soll. Aber da bringt Françoise ihn schon herbei, sie hatte nicht gewußt, wie sie ihn frankieren sollte. Jetzt könnte er ihn ja zerreißen, aber er schlägt die ebenfalls von Françoise gebrachte Zeitung auf und liest, daß die Berma tot ist. »Phädra« fällt ihm ein, und plötzlich wird ihm bewußt, daß das Stück Szenen enthält, die » eine Art von Prophezeiung der Liebesepisoden meiner eigenen Existenz « sind. Diese mise en abîme ist sicher sehr kunstvoll ausgeführt, nur daß ich mich an »Phädra« trotz Lektüre kaum erinnern kann. Für Marcel reicht der kurze Rückblick auf seine Leidenschaft, den Brief doch abzuschicken. Ein bemerkenswertes Oszillieren seiner Entschlüsse. Es gibt nun einmal keine Lösung, das warme Gefühl der Evidenz, von dem alle träumen, wird sich nie einstellen. Mit der gesunden Doppelmoral der Männer seiner Epoche wäre ihm sicher geholfen. Warum wurde die Wahl der richtigen Frau damals zu solch einer existenziellen, die autonome Künstlerexistenz bedrohenden Frage?
    » Seitdem Albertine fort war, schellte ich sehr häufig, wenn mir schien, man könne nicht sehen, daß ich geweint hatte, nach Françoise. « Und wenn es noch mehr nicht sehen sollen, schreibt man ein Buch. Nun entdeckt

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