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Schmidt Liest Proust

Schmidt Liest Proust

Titel: Schmidt Liest Proust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Schmidt
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dazu, daß wir für unser Vergnügen fürchten und zugleich nach ihrer Achtung verlangen. « Andrée macht neue Eröffnungen über Albertines Neigungen, die Marcel zu der Überzeugung bringen, daß er sie von der ersten Begegnung an instinktiv richtig eingeordnet hatte, wobei es ihn im Grunde befriedigt, » daß die Wahrheit mit dem übereinstimmte, was mein Instinkt von Anfang an geahnt hatte «, und eben nicht » dem jämmerlichen Optimismus entsprochen hätte, dem ich später feige erlegen war «.
    Aber diese Wahrheit über sie hat er nicht etwa verdrängen müssen, um sie zu lieben, sondern im Gegenteil, seine Liebe hat danach gesucht. Denn ist es nicht so, daß » das Verlangen sich immer auf das richtet, was uns am konträrsten ist, und uns das zu lieben zwingt, was uns Leiden schafft? « Man tut also unrecht, » in der Liebe von schlechter Wahl zu sprechen, da, sobald überhaupt eine Wahl vorliegt, diese nur schlecht sein kann «.
    Und nun der Todesstoß für unsere Hoffnungen auf ein erfülltes Liebesleben: » Andererseits ist es kein Zufall, daß intellektuelle und sensible Menschen sich immer fühllosen und geistig unterlegenen Frauen unterwerfen und trotz allem auch sehr an ihnen hängen, und daß der Beweis dafür, daß sie nicht geliebt werden, sie keineswegs davon abhält, alles dafür herzugeben, um eine solche Frau bei sich zu behalten. « Bleibt nur zu hoffen, daß man kein intellektueller und sensibler Mensch ist.
    Unklares Inventar:
    – Mustererziehung à la Broglie.
    Verlorene Praxis:
    – Ein Vermögen besitzen, in das unsere Torheiten nur eine Bresche schlagen können.
    – Sich von einem Maler porträtieren lassen, bevor man Kinder bekommt, solange man also noch vorteilhaft aussieht.
    157 . Mo, 1.1.07, Berlin, Haliflor, Schwedter Straße, abends
    Beim Nachhausekommen halte ich der älteren Frau aus dem ersten Stock die Tür auf. Nun bin ich Silvester schon pflichtbewußt bis sechs Uhr morgens »feiern« gewesen (das heißt, ich stand auf einer Tanzfläche zwischen betrunkene, vorwiegend männliche Jugendliche gezwängt und bin Ellbogen ausgewichen, während ich mir leid tat, weil sie mir keinen Gruß zum neuen Jahr schickte), und trotzdem komme ich noch früher heim als die Rentner aus meinem Haus. Hätte ich noch einmal ums Karree gehen sollen, um wenigstens das zu vermeiden?
    Nachmittags schläft das Mädchen, das sich freut, wenn es mich sieht, nebenan auf dem Sofa, der Papa soll später auch kommen. Sie wacht kurz auf und reicht mir ein Gummibärchen, das sie vor dem Einschlafen für mich auf den Nachttisch gelegt hatte. Ich liege neben dieser Wattejacke für die väterliche Seele und versuche mit aller Kraft, die meinem verkümmerten Gemüt zur Verfügung steht, mich vom Trost ihrer Existenz durchströmen zu lassen und im Rhythmus mit ihrem Schnaufen den Kummer dieser Wochen auszuatmen, der keine Bedeutung haben darf neben ihr.
    Jetzt ist sie längst im Bett, morgen ist wieder ein Tag, auf den sie sich freut, wie auf jeden Tag, weil sie noch kein »Gewachsener« ist. Ich darf noch nicht schlafen, ich muß noch an den »Laptopf«.
    Die Entflohene, S. 255–276
    Nun geht es doch noch nach Venedig, und Marcel übt sich darin, die Stadt in Worte zu fassen und Parallelen zu Combray zu ziehen. Er reist mit der Mutter: » Die Zärtlichkeit, die sie mir im Übermaß bewies, war wie jene unerlaubten Speisen, die man Kranken nicht mehr vorenthält, wenn man weiß, daß sie doch nicht wieder gesund werden können. « In ihrem Blick sieht er, wie sie ihm aus der Tiefe ihres Herzens ihre Liebe entgegenschickt.
    Sie treffen Madame Sazerat, » sie war die unerwartet und lästigerweise auftauchende Bekannte, die man auf jeder Reise trifft «. Beim Essen in einem Hotel stößt Marcel auf die alte Madame de Villeparisis und ihren Liebhaber, den Marquis de Norpois, der immer noch von einem wichtigen Diplomatenamt träumt. Wenn sie etwas nicht ganz Exaktes sagt, fixiert er » streng die bedrückte und gefügige Marquise mit der unbeirrbaren Intensität eines Magnetiseurs «.
    Für Madame Sazerat ist die Marquise eine Obsession, auch wenn sie ihr nie begegnet ist. Denn ihr Vater hat sich einst von ihr, die schön wie ein Engel und böse wie der Teufel war, um den Verstand bringen lassen und sich ruiniert, weshalb die Familie der Sazerat in kleinen Verhätnissen in Combray leben mußte. Immerhin hat es sie immer getröstet, daß ihr Vater die schönste Frau seiner Zeit geliebt hat. Aber die Frau, die Marcel

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