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Schmidt Liest Proust

Schmidt Liest Proust

Titel: Schmidt Liest Proust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Schmidt
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nicht zu identifizieren und nicht damit in Bezug gesetzt werden zu wollen, wie man ja auch unabhängig von seiner Familie verstanden werden will.
    Im letzten Jahr ist meine Wahlgroßmutter gestorben, eigentlich hatte ich in der Kirche sprechen sollen, aber das habe ich nicht gekonnt. Ich wollte wenigstens eine Art Nachruf schreiben, aber einerseits gab es zu viel zu sagen, andererseits wußte ich zu wenig, und seitdem bedrückt mich die unerledigte Aufgabe.
    Ich hatte immer die Angst, meine Kinder würden, wenn ich sie nicht rechtzeitig bekäme, meine Wahloma und ihr Haus nicht mehr kennenlernen, und dadurch würde ihnen etwas Unersetzliches entgehen. Vielleicht müßte man seine Kinder schon kurz nach der eigenen Geburt bekommen, dann könnten sie alles miterleben, was man selbst erlebt, und man müßte es ihnen nicht später mühsam erklären.
    Die Entflohene, S. 212–234
    Die Wandlung seines Ich zeigt sich darin, daß er Madame de Guermantes gegenüber zum ersten Mal mit einem gewissen Vergnügen von seiner Trauer über Albertines Tod sprechen kann. Das Erlebte wird also langsam zum Text, denn er beginnt auch, aller Welt von seinem Kummer zu schreiben und » fortan bedrückte er mich nicht mehr «. Aber: » Das Verschwinden meines Leidens und alles dessen, was dazugehörte, ließ mich in einem gewissermaßen verarmten Zustand zurück. «
    Die Frage ist, ob man sich seiner Emotionen schreibend entledigen kann. Ich habe mir ja auch schon oft vorgenommen, über bestimmte Beziehungen nicht zu schreiben, um sie nicht in Text zu verwandeln, den man scheinbar kontrolliert. Aber beim vorletzten Mal war es ein großes Glück, wieder Herr meiner selbst zu werden, als ich darüber schreiben konnte. Ich hatte mich der Frau nie so nah gefühlt wie in der Zeit dieser Arbeit, während sie plötzlich eifersüchtig wurde und es dann ja auch in die Brüche ging. Die Arbeit hatte ich im letzten Januar begonnen, wie ein Mönch, nach Verbannung des Fernsehers aus meinem Leben. Ich hatte sozusagen alles auf den Text gesetzt und mich von ihr verabschieden müssen. Umso größer war der Schock, als der Text vom Verlag abgelehnt wurde. Inzwischen erscheint mir diese fast körperliche Krise wegen eines Textes schwer nachvollziehbar, aber es war, als hätte jemand mit mir Schluß gemacht. Es ist auch nur verdrängt, irgendwen muß ich dafür noch foltern.
    » Daß in mir eine alte Geneigtheit zu arbeiten, die verlorene Zeit aufzuholen, ein anderes, überhaupt erst das richtige Leben anzufangen, auch weiterhin bestand, schenkte mir die Illusion, ich sei noch immer genauso jung. « – Das richtige Leben noch anzufangen, wann wird man einsehen, daß man kein anderes Leben führen wird? Aber warum sollte man das tun, solange man noch einen Tag hat?
    Aufs neue gefällt er sich unter Weltleuten, die eigentlich uninteressant sind, und stattet sein Dasein aus » mit einer lebendigen, aber schmarotzerhaft wuchernden menschlichen Flora «. Das neue Ich sollte einen anderen Namen tragen als das vorhergehende. Man tauscht es periodisch aus, aber man gibt nur darauf acht, » wenn das alte Ich einen großen Kummer in sich eingeschlossen hatte, der einem Fremdkörper gleich uns Schmerzen bereitete und den wir nicht mehr wiederfinden, wenn wir entzückt feststellen, daß wir ein anderer geworden sind, ein anderer, für den das Leiden seines Vorgängers nur mehr das Leiden eines anderen ist, das man mitleidsvoll erwähnt, weil man es selbst nicht mehr verspürt «. Man erinnert sich nur noch undeutlich an diese alten Leiden. » Nicht weil die anderen tot sind, läßt unsere Zuneigung zu ihnen nach, sondern weil wir selbst sterben. «
    Er tändelt ein wenig mit Andrée, eine wiederauferstandene Albertine hätte er lieber nicht in seiner Nähe, » denn Andrée konnte mir mehr Dinge über Albertine sagen, als Albertine mir selbst mitgeteilt haben würde «. Und das tut sie auch, » während ich sie streichelte «. Angeblich hatte Albertine sich mit Morel zusammengetan, der ja gerne junge Mädchen verführt, um sie dann fallenzulassen. Er habe solche Mädchen dann an einen sicheren Ort gebracht, sie Albertine überlassen und zugesehen. Sie habe diese in ihren Augen fast schon kriminellen Gelüste nicht beherrschen können, aber Gewissensbisse empfunden und gehofft, durch eine Heirat mit Marcel gerettet zu werden. Selbst das Unglück kommt manchmal zu spät, so auch diese Eröffnung, die ihm jetzt nutzlos erscheint und nur Trostlosigkeit erzeugt. Wobei es

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