Schmidt Liest Proust
abträglich, vielmehr als etwas betrachtete, was die soziale Stellung nicht mehr berührte als ein Magenleiden «. Gern würde er eine venezianische Glaswarenverkäuferin, die ihm schön wie ein Tizian erscheint, nach Paris mitnehmen und dort aushalten, aber reicht das Geld dafür noch?
Außerdem kommt, was man schon geahnt hatte: Albertine ist keineswegs tot. Eine Depesche von ihr vermeldet, daß sie ihn heiraten will, sie schließt: » Alles Liebe Albertine «, als wäre nichts gewesen. Aber Marcel bekommt keinen Nervenzusammenbruch, er ist auch nicht tief getroffen, sondern er empfindet nichts. Sie war für ihn ein Bündel von Vorstellungen gewesen, die ihren Tod überlebt hatten, bis das Vergessen die Bilder in einer Art Verlies tief in ihm eingemauert hat. Nur weil sie wieder lebt, ersteht sie nicht auch in ihm zu neuem Sein.
Statt seine Liebe wiederzuerwecken, bewirkt die Nachricht das Gegenteil, sie beschleunigt die Rückkehr zur Gleichgültigkeit, wie die Nachricht vom Tod die Liebe gesteigert hatte. Sie interessiert ihn nicht mehr. Und soll er ihretwegen auf die Glaswarenverkäuferin verzichten? Für beide reicht das Geld bestimmt nicht. Außerdem: » Wir glauben ein junges Mädchen zu lieben und lieben doch – ach! – in ihr nur die Morgenröte, deren Schein für ganz kurze Zeit ihr Antlitz jeweils erhellt. « Er retourniert die Depesche, sie sei nicht für ihn gewesen.
Erschreckende Konsequenz dieser Erfahrung: Wenn man aufhört, einen Menschen zu lieben, weil man aufhört, ihn zu sehen, droht einem das womöglich auch für den eigenen Körper, wenn die Bande, die einen daran knüpfen vom Tod getrennt werden. » Unsere Liebe zum Leben ist nur eine alte Liaison, von der wir nicht loskommen können. « Erst der Tod wird uns vom Verlangen nach Unsterblichkeit heilen.
Die Mutter setzt den Tag der Abreise fest, und er fühlt sich sofort um die vielen Frauen betrogen, denen er in Venedig noch hätte begegnen können. Als sei er wieder das trotzige Kind, behauptet er, bleiben zu wollen, und die Mutter tut lieber so, als glaube sie ihm nicht, antwortet nicht einmal und begibt sich zum Bahnhof, während er auf der Terrasse sitzen bleibt, sich ein Erfrischungsgetränk bringen läßt und einen Gondoliere »O sole mio« singen hört. Aber kaum ist die Mutter fort, zerfällt Venedig für ihn wieder in eine rein physische Angelegenheit, er fühlt sich fremd. Trotzdem kann er nicht aufbrechen: » Ich hätte mich entscheiden müssen, ohne auch nur eine Sekunde zu verlieren. Doch das gerade konnte ich nicht. « In einer seltsamen Erstarrung hört er das endlose belanglose Lied an. Ohne Vergnügen, nur mit tiefer, fast verzweifelter Trauer, folgt er den Strophen. Statt sich zu sagen » ich reise nicht «, harrt er, was dasselbe bedeutet, bis zum Ende aus. Und weil das Lied ihm die Entscheidung abzunehmen scheint und für die Zeit steht, die er noch hätte, der Mutter hinterherzueilen, trifft ihn » jeder Ton, den die Stimme des Sängers mit einer vom Muskelapparat her erzeugten Kraft und Ostentation hervorbrachte « mitten ins Herz.
Endlich rennt er doch zum Zug, den er kurz vor der Abfahrt noch erreicht. Die Mutter kann mit Mühe ihre Tränen unterdrücken: » Deine Großmutter hat immer wieder gesagt: ›Es ist merkwürdig, niemand kann zugleich so unerträglich und nett wie dieser Kleine sein.‹«
Unklares Inventar:
– Korduanleder, Calzabrüder
Bewußtseinserweiterndes Bild:
– » Im Vorbeifahren sahen wir vom Zug aus Padua, dann Verona uns entgegeneilen und zum Abschied fast bis an den Bahnhof kommen, denn während wir uns entfernten, kehrten beide, da sie nicht ebenfalls sich in Bewegung setzten, sondern ihr Leben weiterführten, das eine zu seinen Feldern, das andere zu einem Hügel zurück. «
Verlorene Praxis:
– Als Mutter dem Sohn, der sich einer längeren, verträumten Betrachtung von Mosaiken, die die Taufe Christi darstellen, hingeben will, wegen der eisigen Kühle, die von der Decke des Baptisteriums fällt, einen Schal um die Schultern legen.
– Sich als Schüler von Garros im Schwebeflug üben.
159 . Mi, 3.1., Berlin
Wieviele Dinge man in der kurzen Zeit mit ihr gestreift hatte, zeigt sich hinterher, wenn einen alles an sie erinnert:
Pilates-Werbung, weil wir einmal darüber gesprochen haben, ob die Methode funktioniert.
Tanzstudios, Plakate für Tanztheater, der Berlin-Kultur-Teil der taz, weil dort dauernd Tanztheater besprochen wird, Filme, in denen getanzt wird, generell Frauen
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