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Schmidt Liest Proust

Schmidt Liest Proust

Titel: Schmidt Liest Proust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Schmidt
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auch vierzig Jahre alte Fotos meiner Bekannten, und nun stehe ich neben ihr und stelle fest, daß sie die Person auf den Bildern ist. Ich hatte ihren Namen sogar in einer Erzählung über dieses Haus verwendet.
    Seit es 1920 von der Mutter der Besitzerin gebaut worden war, hat das Haus etliche Menschen aus verschiedenen Generationen geprägt. Manche kamen als Kind nach dem Krieg zum Aufpäppeln, manche über Wandervogelfreundschaften, und viele waren Lieblingsschüler des Hausherrn, der Latein- und Kunstlehrer war. Meine Bekannte ist dort in den sechziger Jahren sehr oft gewesen und kannte die Besitzerin, die eine Art Großmutter für mich war, noch als relativ junge Frau. Sie weiß sogar Dinge von ihr, die ich nie erfahren habe. Meine Wahlgroßmutter hat sich zu jedem, den sie auch noch so kurz gesehen hatte, irgend etwas Markantes gemerkt, eine Anekdote oder einen Kinderspruch, der dann immer wieder zitiert wurde, weil sie ein phänomenales Gedächtnis hatte und ganz im Erzählen dieser verschiedenen Lebensgeschichten lebte, während sie selbst das Haus und den Garten fast nie verließ. Sie spann an einer Art Epos, das sie ständig aktualisierte, natürlich hätte sie nie etwas aufgeschrieben.
    Meine Bekannte hat also auch meine Eltern vor meiner Geburt getroffen und könnte mir erzählen, wie sie damals waren, was mich etwas irritiert.
    Warum wartet man auf solche zufälligen Begegnungen, statt sie zu forcieren und bewußt Menschen aufzusuchen, die zu Orten gehören, die einem wichtig waren? Herausfinden, wer in der Samariterstraße in unserem Haus gewohnt hat, als ich klein war, vielleicht lebt man in diesen Familien ja auch noch als Geist weiter? Oder nachprüfen, welche Frauen im selben Krankenhauszimmer wie meine Mutter entbunden haben, vielleicht erinnern sie sich noch, wie man geschrien hat oder was damals geredet wurde? Oder nur die Mädchen besuchen, bei denen man nie den Mund aufgekriegt hat und sich anhören, wie die Sache auf sie gewirkt hat? Vielleicht würden sie ihren Fehler ja jetzt einsehen? Man könnte eine kleine Monte-Christo-Phantasie ausspinnen.
    Die Tante meiner Bekannten hat sich totgesoffen, ich hatte darüber in einem ihrer kleinen Texte gelesen, aber natürlich nicht gewußt, daß es sich um Tante Sabine handelte, die ich auch als Kind erlebt habe und deren schwierige Art uns bedrückte. Sie war Malerin ohne großes Talent gewesen, und dann hatte sich auch noch ihre Tochter erhängt. Ich habe mal ein schlechtes Gedicht über diese Geschichte geschrieben, »Die Leiche meiner Mutter«, wobei der Witz in der Zweideutigkeit des Satzes lag, denn so hatte die Selbstmörderin ihren letzten Willen formuliert. Es ist sogar so, daß wir die Malerin einmal in den siebziger Jahren im Zug von Weimar nach Berlin getroffen haben, ich war durch die Waggons gerannt, wie immer auf der Suche nach der Mitropa, da stolperte ich über Tante Sabine, die ich aus Alt-Lipchen kannte. Sicher war meine Mutter nicht scharf darauf, ihr hier zu begegnen und sich dazusetzen zu müssen, aber als Kind durchschaut man die Verhältnisse zwischen den Erwachsenen nicht, für mich war es eine Bekannte, was ich freudig vermeldete. Meine Mutter weiß noch, daß Tante Sabine damals aus Erfurt kam, wo ihre Schwester, also die Mutter meiner Bekannten, gestorben war. Was sich dort abgespielt hatte, habe ich nun in einem Text meiner Bekannten gelesen, ich bin also praktisch fast durchs Bild gelaufen. Tante Sabine hatte mich damals »jedoch« sagen hören und sich gewundert, daß man als Kind so ein Wort benutzte, was mich stolz gemacht hatte.
    Wenn man nur etwas kratzt, hat jeder ein Schicksal, hat meine Wahlgroßmutter immer gesagt, und ihr Haus mit dem großen Garten hat so viele verschiedene Menschen beeindruckt und angezogen, weil es wie eine Insel wirkte, vor der diese menschlichen Dramen haltmachten. Dabei hat es in dieser Beziehung auch dort an nichts gefehlt. Wir wußten, daß sie schlimm unter den Russen gelitten hatte, aber man fragte nicht nach. Und ihr Mann hat nie erzählt, wo genau er im Zweiten Weltkrieg gedient hat und was er dort machen mußte (außer Andeutungen, zum Beispiel daß er oft auf Bäumen saß. War er Scharfschütze gewesen?). Das waren Dinge, die man ruhen ließ. Ich fand immer, man darf so etwas Entscheidendes nicht aussparen, wenn man einen Menschen beschreibt, aber andererseits sind es Dinge im Leben, die sich der Mensch nicht ausgesucht hat, und vielleicht hat man das Recht, sich mit seinem Schicksal

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