Schmidt Liest Proust
immer noch eine unbewiesene Hypothese bleibt, daß Andrée überhaupt die Wahrheit sagt.
Unklares Inventar:
– Echte Nattiers.
Verlorene Praxis:
– Seine Reitstiefel ablegen und dicke Wollpantoffeln anziehen.
– Ängstlich-schüchterne Hoffnung auf ein Nachleben nach seinem Tode vermittels seiner Tochter setzen.
– Sich als kleine Tänzerin nach dem Tod seines reichen Gönners Kapital, Liegenschaften und Automobile zunutze machen, aber das Monogramm des ehemaligen Besitzers entfernen lassen.
Selbständig lebensfähige Sentenz:
– » Ich habe nichts übrig für die unnützen jungen Leute, diese Narrenzunft, die nur Wichtigtuer und Unruhestifter hervorbringt. «
156 . So, 31.12., Berlin
Heute fiel mir auf, daß Marcels wahre Gefangene nicht Albertine ist, sondern ich. Schließlich bin ich gezwungen, meine Tage zu Hause zu verbringen und kann nicht mehr verreisen, weil ich dann zu fürchten hätte, durch irgendeine Naturkatastrophe aufgehalten zu werden und mit einem Band fertig zu sein, ohne den nächsten dabei zu haben. Und alle kann ich nicht mitnehmen, denn ohne optimiertes Gepäck kann ich nirgendwohin aufbrechen.
Ich gehe nicht einmal mehr spazieren, weil ich jemanden treffen könnte, der mich dazu verleitet, durch die Zeit, die ein Gespräch kostet, meine Tagesplanung umzuwerfen, so daß es zu Fehltagen kommt, auf ewig untilgbare Makel. Und natürlich kann ich über nichts anderes mehr schreiben als über Proust, und was eigentlich als eine Art geistiger Morgengymnastik gedacht war, um besser über den deprimierenden Winter zu kommen, fordert mir nun alles ab, und selbst einen Monat vor Schluß bin ich nicht sicher, ob ich es überhaupt schaffe. Und der kritischste Moment droht mit dem Ende der Lektüre, wenn die Anspannung nachläßt und das Immunsystem wie bei Migränikern besonders anfällig ist.
Ich könnte mich damit rächen, die letzten zwanzig Seiten des letzten Bandes nicht zu lesen, wäre das nicht wie einen Menschen zu verlassen? Aber wir wissen beide, daß ich das nicht tun werde, Proust kann sich meiner ganz sicher fühlen, er weiß ja, daß nur bestimmte Menschen auf ihn hereinfallen und daß sie von selbst kommen.
Während den Tag über Raketen knallten und mein Viertel zu verwüsten schienen, während das Donnern von Detonationen Berlin erschütterte, als würde sich der Stadt eine Frontlinie nähern, habe ich hier meinen einsamen Dienst getan, und es fiel mir schwer wie nie, weil die Lektüre meine Dämonen heraufbeschwört und es mir immer unausweichlicher vorkommt, so zu enden wie Marcel, allerdings selbstverständlich ohne vorher seine künstlerischen Leistungen erbracht zu haben. Nostalgie, Bindungsangst und eine krankhafte Fixiertheit auf die eigene Seele, was echte Liebe ausschließt, das sind die Aussichten. Wenn die Mauer nicht gefallen wäre, ich würde als Mathematiker arbeiten und hätte mich nie kennengelernt. Und weil diese Bürgerbewegten den Wert der Freiheit überschätzt haben, habe ich jetzt das Bedürfnis, mir den ganzen Tag mit einer stimmungsaufhellenden Naturlichtlampe ins Gesicht zu leuchten, wie andere sich mit einem Fächer Luft zuwedeln.
Vielleicht wird mein Leben von der Lektüre aber auch profitieren, und ich kann, ohne die gewonnenen Einsichten zu verraten, das tun, was meine Mutter »seßhaft werden« nennt. Man muß eine Erfahrung nicht zweimal machen, der Welt genügt ein Proust. Vielleicht wird man lernen, daß Marcel mit seiner deprimierenden Liebeskonzeption nur einen kleinen Ausschnitt aller Möglichkeiten beschrieben hat. Vielleicht wird man eines Tages weiser sein, schon weil man ein höheres Alter erreicht hat. Man wird andere Bücher lesen, »Don Quichotte«, »Das Kapital«, Descartes, noch einmal Beckett, Rabelais, die »Italienische Reise«, zur Zerstreuung einen Philip Roth, zur Konzentration einen Handke, und vielleicht wird man sogar einen Weg finden, als Autor zu arbeiten, ohne dabei wie Marcel vorzugehen, in einer ungleich inkonsequenteren Weise. Man muß nur einmal den Mut haben, eine wirkliche Entscheidung zu treffen und sich fallen zu lassen, ohne auf eine Gruppe depressiver Mitpatienten zu hoffen, die einen auffangen könnten. Man hat ja immer noch die Hoffnung, nie aufzuprallen, zumindest für die Zeit des Sturzes.
Die Entflohene, S. 234–255
Düstere Aussichten: » Man lügt sein ganzes Leben lang, auch und vor allem, vielleicht einzig sogar den Leuten gegenüber, die uns ihrerseits lieben. Nur diese in der Tat bringen uns
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