Schmidt Liest Proust
Einordnungen lesen wir jetzt. Demnach befinden wir uns im Jahr 1916, mitten im Ersten Weltkrieg, » der einzigen Sache, die mich damals interessierte «. Die Frauen würdigen die Entbehrungen der Frontsoldaten mit ihrer Mode, mit Schmuck, der in seiner Ornamentik an die Armee erinnert, hohen Gamaschen, die denjenigen der Soldaten ähneln, Ringen und Armbändern aus Granatsplittern. Alles spricht von einer tiefen Wandlung, einer Kluft zwischen der Vorkriegszeit und dem Krieg. Wer gewohnt ist, sich im Innern eine eigene Welt zu schaffen, für den vollziehen sich solche Wandlungen allerdings eher in eigentlich bedeutungslosen Dingen: » [E]in Vogellied im Park von Montboissier oder ein mit Resedaduft beladener Lufthauch sind offenbar Ereignisse von geringerer Tragweite als die größten Daten der Revolution und des Kaiserreichs. Dennoch haben sie Chateaubriand in seinen Memoires d’Outretombe Seiten von unendlich größerem Wert eingegeben. «
Etwas verräterisch erscheint es und wie eine Selbstbeschwörung, daß über den Text wieder Beteuerungen verstreut sind, wie wenig er noch an Albertine denke (nämlich gar nicht).
Aus Mangel an Kohlen und Licht macht der Salon der Verdurins in großen Hotels Quartier, was den Reiz aber eher noch erhöht, da sich die vielen Vergnügungen dort » auf kleinem Raum zusammendrängten gleich den Überraschungen, die man in einem Weihnachtsstrumpf entdeckt «.
Am Himmel sieht man insektenkleine Flugzeuge über Paris wachen, und Soldaten auf Urlaub blicken vor ihrer Rückkehr zu den Schützengräben durch die beleuchteten Fensterscheiben der Restaurants, worunter Marcel angeblich leidet. Der besondere Reiz dieser Tage ist die Verdunkelung der Stadt, denn » die Besuche, die man machte, bekamen Ähnlichkeit mit denen, die man Nachbarn auf dem Lande abstattet «. Wie herrlich wäre es, sich jetzt im Freien mit Albertine zu treffen! » Zunächst hätte ich nichts gesehen, ich hätte die Aufregung durchgemacht zu glauben, sie habe das Rendezvous versäumt. « Man geht durch die Dunkelheit von Haus zu Haus, als besuche man einen Gutsnachbarn auf dem Lande. Naturelemente, die bis dahin in Paris nicht existierten, geben einem das Gefühl, die Ferien im Freien zu verbringen, alleine schon der Kontrast von Licht und Schatten an hellen Mondscheinabenden. Und wenn der Wind eisigen Hagel vor sich hertreibt, wähnt Marcel sich » weit mehr am Ufer des wütenden Meeres, von dem ich einstmals träumte, als seinerzeit in Balbec «.
Unklares Inventar:
– Madame Tallien, ein vornehmes Cachet, Percin.
Katalog kommunikativer Knackpunkte:
– » Ich hatte bereits bei verschiedenen Personen bemerkt, daß das Zurschautragen lobenswerter Gefühle nicht die einzige Art ist, schlechte zu verbergen, sondern daß eine neue Methode im offenen Bekennen dieser minderwertigen besteht, wobei man dann wenigstens nicht den Anschein erweckt, als wolle man etwas verbergen. «
Verlorene Praxis:
– Mit einer kleinen Grimasse zu verstehen geben, daß man gar nicht zuverlässig wisse, ob eine Dame verheiratet sei oder nicht.
– Menschen, die man noch nicht kennt, von seiner Einbildungskraft als Vergnügen dargestellt sehen, als würden sie möglicherweise anders als die bisherigen sein.
– Feststellen, daß jemand sein Haus von Bakst hat einrichten lassen, während einem selbst Dubuffe lieber wäre.
– Als Frau Zugang zu geistigen Kreisen haben, die dem derben Gatten verschlossen bleiben.
164 . Mo, 8.1., Berlin
Die Geschichten aus den Lateinlektionen gehen mir im Moment nahe. Den Römern fehlt es an Frauen, deshalb laden sie die Sabiner zu Spielen nach Rom ein. Während die Sabiner sich über ein Spektakel freuen, betrachten die Römer schon gierig die mitgebrachten Frauen, die sie schließlich in ihre Häuser entführen werden. Die Sabiner drohen Rom mit Krieg, aber die Sabinerinnen stellen sich zwischen ihre Familien und ihre neuen Ehemänner, es gelingt ihnen, beide Völker zu versöhnen. Ich denke natürlich sofort, was für korrumpierbares Pack, natürlich hatten die Römer den größeren Komfort zu bieten, die Stadt war schließlich das Zentrum der Welt, in vielen Häusern gab es fließend Wasser, das war nichts anderes, als heute einen reichen Mann zu heiraten. Wie demütigend, seine Frauen so an eine Weltmacht zu verlieren. Oder Dido, die den vor Karthago gestrandeten Aeneas mit seinen Leuten aufnimmt, sich in ihn verliebt, bis »Jupiter ihm befiehlt«, weiter nach Italien zu segeln, weil das »sein
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