Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schmidt Liest Proust

Schmidt Liest Proust

Titel: Schmidt Liest Proust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Schmidt
Vom Netzwerk:
als sei meine Leidenschaft ein Grippevirus, das man auskurieren kann. Dabei denke ich immer noch an meine Krankenschwester von vor siebzehn Jahren und sehe sie regelmäßig um die Ecke biegen, und dann ist sie es gar nicht. Das geht doch nie vorbei. Es wäre eine reizvolle Situation, wenn all die Mädchen, die man unbedingt wollte, einen einmal überraschend besuchen kämen. Das Eigenartige ist ja, daß sie sich gar nicht kennen. Dabei haben sie so viel gemeinsam.
    Die wiedergefundene Zeit, S. 166–187
    Das von Jupien geleitete Hotel, in dem masochistisch veranlagte Aristokraten die Begegnung mit Lakaien, Chorknaben, » Negerchauffeuren «, Angehörigen jeglicher Waffengattungen, Alliierten jeglicher Nationalität suchen. Auch Kanadier sind beliebt, wegen ihres archaischen Akzents, sowie Schotten, wegen der Röcke. Ganz verdorbene Greise verlangen gar nach Kriegskrüppeln.
    Charlus weiß zwar, daß ihm alles nur vorgespielt wird, aber bis zu einem gewissen Grad kann er sich der Illusion hingeben, er werde tatsächlich von Schwerverbrechern gezüchtigt. Nur wenn diese eigentlich arglosen Kerle bei der Verabschiedung zu ungeschickt lügen, und man » die Absicht wie in Büchern von Verfassern, die im Apachenjargon schreiben wollen «, bemerkt, bricht alles zusammen, und Charlus ist enttäuscht, es mit braven Jungs zu tun zu haben, die ihr Honorar für die Schläge dem Bruder an der Front oder den Eltern schicken.
    Die Gäste sind dabei keineswegs zwielichtig, sondern geistreiche, feinfühlige und liebenswürdige Männer verschiedenster Profession. Das Haus ist sozusagen ein Mittelpunkt des geistigen Lebens. Natürlich tobt unweit von Paris der Krieg, und ab und zu taucht ein deutsches Flugzeug über den Dächern auf und wirft Bomben. » Aber was machen Sirenen und deutsche Flugzeuge Leuten aus, die ihr Vergnügen suchen? Der gesellschaftliche und natürliche Rahmen, der unsere Liebeserlebnisse umgibt, beschäftigt uns beinahe gar nicht. « Modell zahlloser Melodramen, in denen die Helden, noch wenn ihnen das Wasser bis zum Hals steht, die Zeit für einen Kuß finden, der sie ihre völlig aussichtslose Situation für Momente vergessen läßt. » Es ist nämlich falsch zu glauben, daß die Stufenleiter der Ängste derjenigen der Gefahren entspricht, durch die jene hervorgerufen werden. Man kann fürchten, nicht einzuschlafen, weit weniger Angst aber vor einem ernsthaften Duell verspüren, vor einer Ratte wiederum mehr als vor einem Löwen. «
    Bei Bombenangriffen begeben sich diese Pompejaner in die Katakomben, wo die Dunkelheit den Lustgewinn noch steigert, weil man die Präliminarien der Annäherung über Blicke und Gespräche überspringen kann, um » unmittelbar in eine Phase der Zärtlichkeit einzutreten «. Der Luftschutzkeller als Darkroom! Die archaische Welt des Krieges trifft auf die ebenso archaische Welt geheimer Riten der Lust unter dem » vulkanischen Grollen der Bomben «.
    Unklares Inventar:
    – Lupanar.
    Katalog kommunikativer Knackpunkte:
    – Jemandem so unendlich lange lächelnd in die Augen schauen, » wie einen früher die Photographen stillsitzen ließen, wenn das Licht nicht gut war «.
    Verlorene Praxis:
    – Sich daran gehindert sehen, bei einer nur ironischen und äußerlichen Sicht der Dinge stehenzubleiben, weil sich einem unaufhörlich Gelegenheiten für schmerzliche Erfahrungen eröffnen.
    – Sich mit der Dunkelheit entschuldigen, wenn der Vorstoß der Hände und Lippen schlecht aufgenommen wurde.
    170 . Mo, 15.1., Berlin
    Anfang der Neunziger pilgerten wir in Tarkowskij-Filme, auch wenn viele dieser Kinoabende im »Babylon« etwas Bleiernes hatten. Aber man war bereit, für seine Erleuchtung zu leiden, massentaugliche Kulturprodukte wurden verachtet. Man war noch zu jung für diese Filme, aber umso mehr respektierte man sie. Statt nebenan in der Oranienburger Straße mit den zugezogenen Westdeutschen die ersten improvisierten Kneipen zu bevölkern, saß man, während irgendwo zu Techno getanzt wurde, in dunklen Sälen und sah immer wieder »Stalker«, »Nostalgia« oder »Solaris«. Während ich mich an den Schluß dieses Films wie immer nicht erinnere, sehe ich genau die Szene vor mir, in der die Frau mit bloßen Händen eine Stahltür zerfetzt, weil sie es nicht erträgt, auch nur einen Moment von ihrem Mann getrennt zu sein.
    Seit über zwanzig Jahren steht Stanislaw Lems Buch bei mir im Schrank (vielleicht ein Konfirmationsgeschenk, weil jemand dachte, ich würde mich als Junge für

Weitere Kostenlose Bücher