Schmidt Liest Proust
Weltraumliteratur interessieren und nicht wußte, daß es in »Solaris« eigentlich um Liebe ging). In den letzten Tagen habe ich den Roman verschlungen, ein schönes Gefühl, sich Bücher doch noch anzueignen, die man schon lange besitzt. Das bestärkt einen in der Vorstellung, im Ernstfall bereits jetzt die Pforten schließen und mit den angesammelten Schätzen auskommen zu können. Und was sind schon zwanzig Jahre im Leben eines Buchs?
Beeindruckend, wie Lem charakteristische Beispiele vom Topos »Forschername« anhäuft. Wenn ich keinen übersehen habe, sind es auf zweihundertvierzig Seiten: Gibarian, Snaut, Moddard, Sartorius, Gamow, Shapley, Hughes, Eugel, Ottenskjold, Shannahan, Berton, Le Chatelier, Civita-Vitta, Veubeke, du Haart, Thexall, Ravintzer, Carucci, Fechner, Archibald Messenger, Timolis, Trahier, Giese, Uyvens, Maartens, Ekkonai, Hamaleas, Fermont, Tsanken, Nilin, Cayatt, Awalow, Siona, Erg, Frazer, Cajolla, Gravinsky, Magenon, Panmaller, Strobla, Freyhouss, le Greuille, Ossipowitsch, Franck, Holden, Eonides, Stoliwa, Sevada, Proroch, Grattenstrom, Muntius, Cho-En-Min, Ngyalla, Kawakadze, Bergmann, Reynolds.
Obwohl alles in der fernen Zukunft spielt, könnte man das Buch mit Proust vergleichen (ein seltsamer Effekt, Bücher parallel zu lesen, man geht noch mit der Erwartung des einen in das andere Buch, als ob man eine Bank betritt und im Kopf auf eine Apotheke eingestellt war). Ein Planet, der von einem gallertartigen Ozean bedeckt ist, den man als riesigen Organismus beschreiben könnte, der in der Lage ist, die Gehirne seiner Besucher zu analysieren und aus Neutrinostrukturen »Gäste« zu generieren, die den verdrängten Gedanken der Wissenschaftler nachgebildet sind. So daß der Held von einer Gefährtin verfolgt wird, die identisch mit der Frau ist, die sich vor Jahren seinetwegen umgebracht hatte.
Er versucht zuerst, sie mit einer Rakete in den Orbit zu schicken, aber sobald er sie dort eingeschlossen hat, vibriert der Apparat auf entsetzliche Weise, denn das Wesen in seinem Innern, das die Trennung nicht erträgt, hämmert in unvorstellbarer Panik gegen die Wände. Natürlich entsteht die Gefährtin nach ihrer Vernichtung neu und erinnert sich an nichts. Sie bemerkt nur ihr unbezwingbares Verlangen, bei ihm zu sein. Was für ein Bild für diesen Zustand, unter dem wir manchmal leiden. Was erzeugt diese traurige, durch nichts zu beherrschende Macht in uns, die sich zuverlässig immer wieder das falsche Objekt sucht? Wegen der die mittelalterlichen Mystikerinnen halluziniert haben, Jesus Herz zu essen oder von ihm schwanger zu sein? (Eine Freundin erzählte mir, man hätte sie zeitweise festbinden müssen, um sie daran zu hindern, zum Telefonhörer zu greifen und ihren sich ausschweigenden Partner anzurufen.) Und warum hat diese Macht so wenig Überzeugungskraft auf andere?
Die wiedergefundene Zeit, S. 187–207
Sind Männer, die sich aus Lustverlangen prügeln lassen, unzurechnungsfähig? Und diejenigen, die sie prügeln? Hat die » Krankheit von Monsieur de Charlus « ein neues Stadium erreicht? Dabei wisse » der Irre « doch, daß er Opfer eines Wahns sei, denn die Schläger sind ja bezahlt. Aber ist nicht schon jede individuelle Liebe zu einer Person eine » Abirrung «? Genaugenommen wäre jeder, der als einziger eine Frau liebt, ein Irrer, insofern dieses Wort für jemanden steht, der anders als alle anderen ist. So wie unsere Organe ihre » Spezialneigungen « haben und man » bei bestimmten Wetterlagen ein Grauen « empfindet, so kann man auch eine Neigung » zu Frauen, die einen Kneifer tragen, oder zu Kunstreiterinnen « empfinden. (Wie schwer fiele es allerdings, diese heute zu befriedigen!) Hinter dem Verlangen von Charlus nach schwer aufzutreibenden Folterinstrumenten, wie sie selbst an Bord von Schiffen, auf denen härteste Disziplin herrscht, außer Gebrauch gekommen sind, verberge sich vielleicht nur der » Traum von Männlichkeit «. So enthalte jede Sehnsucht eine Wahrheit über uns.
In der Welt der Pornographie fällt die Ausdifferenzierung der Angebote auf. Eine fast schon systematische Kategorisierung der Lust, wie ein großes Kaufhaus, in dem für jedes Bedürfnis ein Produkt angeboten wird. Wobei mir diese Befriedigung von Bedürfnissen immer zweifelhaft vorkam, wie es doch auch verlogen scheint, Pizzen Namen zu geben, wenn sie sich nur in der Kombinatorik ihrer Zutaten unterscheiden. Eine Pizza besitzt doch keine zu einem Namen berechtigende Individualität,
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