Schmidt Liest Proust
wenn sie statt mit Pilzen, Oliven und Schinken mit Pilzen, Oliven und Tomaten serviert wird.
Das Totenlied auf den beim Versuch, den Rückzug seiner Leute zu decken, gefallenen Saint-Loup wird konterkariert von der Information, daß er sein Kriegskreuz verloren hat, das ja ein paar Seiten vorher in Jupiens Lupanar aufgetaucht war. Der siegfriedhafte Saint-Loup hatte also auch zu den Besuchern dieser Züchtigungsanstalt gehört. Abgründe, in die man schauen muß, will man den Menschen verstehen. Oder kann man sie ebenso aussparen, wie man auch nicht unbedingt zusehen muß, wenn die Freundin sich das Gebiß mit Zahnseide reinigt?
Aus Kummer schließt sich Marcel mehrere Tage in seinem Zimmer ein. Er fragt sich, ob er nicht intensivere Bilder sieht als bei Personen, » die man mehr geliebt, aber auch in so unaufhörlicher Folge vor sich gesehen hat, daß das Bild, welches man von ihnen behält, nur noch eine unbestimmte Mitte zwischen einer Unzahl von unmerklichen verschiedenen Bildern bezeichnet «. Denn bei diesen ist » unsere Zuneigung […] ganz auf ihre Kosten gekommen «, und man fürchtet nicht, daß man allein durch die Umstände um mehr betrogen wurde.
Wie das Leben so spielt, hatte Saint-Loup noch kurz vor seinem Tod nach Morels Aufenthaltsort an der Front geforscht. Zu spät für Saint-Loup ist er wiederaufgefunden, aber bei der Gelegenheit gleich als Deserteur enttarnt worden. Um seine Haut zu retten, denunziert Morel Charlus und Monsieur d‘Argencourt, die daraufhin eingesperrt werden.
Verstorben:
– Robert de Saint-Loup.
Verlorene Praxis:
– Sich mit ohne Anleitung gepflegter Zufallslektüre eine so treffende Redeweise bilden, daß in ihr ein vollendetes Gleichgewicht der Sprache sichtbar wird.
– Eine Person, die man liebt, mit Vergnügen jeden Tag zur Weißglut bringen, indem man sie beim Domino schlägt.
– Selbst beim Durchschreiten eines Salon stets den Schwung des Angriffs in sich tragen.
171 . Di, 16.1., Berlin
Ach, es gäbe noch so viel zu sagen, aber es sind nur noch zehn Tage, und danach ist es zu spät. Alles gewinnt seinen Zauber durch seine Endlichkeit, man muß loslassen können.
Wird es mich in einem Jahr noch geben? Werde ich dann unter unwillkürlichen Tränenausbrüchen leiden und von Tabletten abhängig sein? Oder bin ich dann plötzlich Luhmannianer? Werden mir die jungen Leute aus dem Weg gehen, weil ich nach Bitterkeit und Niedergang rieche? Oder wird sich ein ausbalanciertes, seelisches Gleichgewicht herstellen lassen? Treffe ich eine Physiotherapeutin mit Sinn für Sitcoms, Proust, sowjetisches Kino, Ausdauersport und Blödeln, die findet, daß trotz solch freudespendender Interessen ausgerechnet ich ihr in ihrem Leben noch fehle? Oder eine ganz andere, bei der mir egal ist, was sie macht und wie sie aussieht, weil sich durch sie ein geheimer Mechanismus in mir in Gang setzt, als würde einem Schläfer sein Losungswort zugeflüstert, das ihn vom Familienvater in eine Mordmaschine verwandelt?
Ist die »Recherche« eigentlich eine Erfolgsgeschichte? Oder wäre es eher ein Erfolg, ein stabiles, halbwegs ausgeglichenes Leben zu führen, in dem einen nichts dazu zwingt, 4 000-Seiten-Bücher zu schreiben? Bis jetzt handelt das Buch vom Scheitern, aber wie bei Lance Armstrongs »Tour der Leiden« weiß man ja schon, daß der Autor am Ende ganz oben stehen wird. Die Irrwege zu beschreiben, auf denen der Autor zum Werk gelangt, gilt heute in der Literatur als Tabu, weil schon zu oft statt eines Buches die Schwierigkeit, ein Buch zu schreiben, thematisiert worden ist. Aber an den meisten Filmen ist das Making-of doch das Beste. Ich interessiere mich ja auch für das Ringen des Automechanikers um die Rettung des Getriebes oder für den Kampf des Kochs um sein Soufflé und nicht für Getriebe und Soufflé.
Was hat das Happy-End in unserer Kultur diskreditiert? Wenn Dido, während sie noch am Strand steht und sich wegen Aeneas in die Klinge stürzen will, plötzlich von einem Fremden angesprochen würde, der ihr viel besser gefällt? Wenn Werther ein Erasmus-Jahr in Salamanca macht, sich dort in eine aufgeweckte Finnin verliebt und nicht mehr versteht, was er von Lotte wollte? Wenn Jesus gar nicht sterben wollte, sondern in Wirklichkeit einen Verrückten vorgeschickt hat, während er sich mit einer Verehrerin aus dem Staub gemacht und zehn Kinder bekommen hat? Warum denkt man, daß das die Geschichten schwächen würde?
Die wiedergefundene Zeit, S. 207–227
Viele Jahre
Weitere Kostenlose Bücher