Schmidt Liest Proust
und keine Sekunde allein lassen, damit er blind bleibt für die Veränderungen, die man durchmacht.
Verstorben:
– Vater Bloch.
Verlorene Praxis:
– Sich an gewisse Stellen bei Baudelaire zu erinnern versuchen.
– In Ermangelung der physischen Mittel, um die auf dem Grunde seiner Seele ruhende Schlechtigkeit zum Ausdruck zu bringen, gut erscheinen.
176 . So, 21.1., Berlin
Ach, wie schön ist es manchmal, kein Niemand mehr zu sein, der nicht erklären kann, was er mal machen will, obwohl er sich schon als etwas Besonderes fühlt. Damals hat man auf die Frage trotzig mit »Nichts!« geantwortet, schließlich wäre jede konkretere Antwort eine Einengung der Ansprüche gewesen. Überhaupt war es verpönt, Menschen danach zu beurteilen, was sie »machten«, es ging doch darum, was man »war«. Trotzdem gebe ich nur in Ausnahmefällen zu, daß ich Autor bin, weil das einen jämmerlichen Beigeschmack hat. Das Schöne am Beruf ist, wenn sich einem Türen für Projekte öffnen, weil man sozusagen seine Qualifikation schon nachgewiesen hat. Heute war ich bei Mawil, um mit ihm eine meiner Kurzgeschichten als Comic-Szenario umzuschreiben. Sie heißt »Und einen Fetzer«, es geht darin um die erste große Traurigkeit im Leben, nach der Rückkehr aus dem Ferienlager, wenn sich die Gruppe auf dem Bahnhof auflöste und man wieder mit seiner Familie mitging. So ein Comic-Strip nach einem Text von mir wäre für mich ein Traum, fast wie ein eigener Film. Wie man sich freut, wenn einem ein Satz einfällt, der genau den Tonfall von damals trifft! Zum Beispiel beim Tischtennis, wenn ein Mädchen sagt: »Paß uff, der schmettert!« Es gibt beim Schreiben immer nur genau eine richtige Lösung, und seltsamerweise kann man sie sich nicht ausdenken.
Mawil wohnt in der Kastanienallee, wo ich im September/Oktober ’89 meine erste Wohnung hatte, eine Küche und ein Zimmer, aber mir erscheint das heute immer noch ideal. Ich hatte alles mit dadaistischen Müll-Objekten ausgestattet, weil man seine Besucher mit Kreativität beeindrucken wollte und die Wohnung ein Kunstwerk sein mußte. Inzwischen weiß ich, wie schwer ich mich von Sachen trenne, die ich zu lange besitze, und werfe lieber gleich alles weg. Bei anderen gefällt es mir, wenn die Wohnung zusammengebastelt wirkt und hinter jedem Detail ein Gedanke steckt. Bei Mawil sieht es aus wie in einem Kinderzimmer für Erwachsene, man hat in solchen Wohnungen gleich das Gefühl, in Sicherheit zu sein. Überall hängt irgendetwas Spannendes, man bräuchte lange, um überhaupt alles zu überblicken, dabei sind es kaum fünfunddreißig Quadratmeter. Der Monsator-Durchlauferhitzer und die Gamat-Gasheizung sind noch aus der DDR, der Spülschrank hat diese beiden schwarzen, konischen, eng zusammenstehenden Griffe und quietscht – das Geräusch hatte ich schon vergessen, weil mein IKEA-Schrank Schiebetüren hat. Das Plakat einer tschechischen Band »Jiřŕ Brabec & his Country Beat«, genau der Typ Ost-Musiker, die mit ihren Schnurrbärten für uns schon damals so uralt aussahen, daß man sich vor ihrer Musik fürchtete. Inzwischen ist man vielleicht sogar schon älter als sie. Ein Plakat »Oznaki turysticzno krajoznawcze«. Ein mit Lichterkette beleuchteter Plattenspielerschrein mit Mini-Diskokugel. Für die Stifte ein kleines Papp-Tönnchen, die Verpackung von »Luckanum-Einfaßband – selbstklebend gummiert« vom VEB Isofol Leipzig/Lucka.
Eigenartig, gerade gestern war ich auf der Party einer Ex-Freundin aus München, die ebenfalls ganz in der Nähe wohnt, und deren WG-Wohnung, in der sich fast nur Zugezogene trafen, gehorchte genau der entgegengesetzten Ästhetik, es gab nichts Überflüssiges, die Wände waren weiß und man wäre beim Putzen gut in die Ecken gekommen. Eine längliche DDR-Plattenschrank-Kommode paßte gut zu den sparsam verteilten Design-Möbeln. Ich wüßte nicht, was mir lieber wäre, Reduktion oder Unübersichtlichkeit? Es wäre sowieso schöner, wenn man Swinger-Wohnen betreiben würde, also immer für eine Weile mit anderen die Wohnungen tauschte. In fremden Wohnungen stört es einen nicht, wenn alles mit Erinnerungsstücken überladen ist, es sind ja nicht die eigenen, man muß bei nichts entscheiden, ob es einen belastet oder stabilisiert. Vielleicht sollte man nach dem gleichen Prinzip auch gleich den Körper tauschen?
Die wiedergefundene Zeit, S. 307–327
Marcel ist immer noch auf dieser für ihn so gespenstischen Matinée beim Prinzen von Guermantes, wo
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