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Schmidt Liest Proust

Schmidt Liest Proust

Titel: Schmidt Liest Proust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Schmidt
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den Anwesenden » das Alter Sohlen aus Blei angeheftet hatte «. Sie stehen vor ihm wie Bildnisse auf einer PorträtAusstellung, zu denen man sagt: » Nein, nicht dieses hier, da sind Sie weniger gut getroffen, das sind Sie ja gar nicht. «
    Manche Herren scheinen nach einem Schlaganfall zu hinken, als stünden sie tatsächlich, wie man sagt, mit einem Fuß im Grab, und » während das ihre ebenfalls schon halb geöffnet vor ihnen lag, schienen gewisse halbgelähmte Frauen nicht mehr völlig ihr bereits am Grabstein hängengebliebenes Kleid losmachen zu können; sie vermochten sich nicht mehr gerade aufzurichten «.
    Er sieht Männer, und » ihre beständig bebenden Lippen schienen Sterbegebete zu murmeln «. Und Frauen, bei denen man sich fragt, wie das Leben diese Veränderungen an lebendigem Fleisch hatte vornehmen können. Um eine » leichtfüßige Blondine « durch » einen beleibten Dragoner « zu ersetzen, » hatte es größere Zerstörungen und Neubauten vornehmen müssen, als wenn man einen schlanken Kirchturm durch eine Kuppel ersetzt «. Es ist einfach nicht zu begreifen, wie jemand so alt geworden sein kann.
    Immerhin besteht für manche die Chance einer zweiten Schönheit, so wie man auch spät ein neues Handwerk lernen könne oder » Boden, der zum Weinbau nicht mehr taugt, Rüben abgewinnt «. Aber sie wird weder den zu häßlichen noch den zu schönen Frauen geschenkt. Das Gesicht zu schöner Frauen ist wie eine Marmorskulptur ein für allemal festgelegt und kann sich nur abnutzen. Zu häßliche Frauen aber » waren Monstren und schienen sich nicht stärker ›verändert‹ zu haben, als es Walfische tun «.
    Heldenhaft und ohne zu ermatten, kämpfen die Frauen gegen das Alter » und boten der Schönheit, die sich von ihnen entfernte wie ein Sonnenuntergang, dessen letzte Strahlen sie leidenschaftlich noch bewahren wollten, den Spiegel ihres Antlitzes dar «.
    Unklares Inventar:
    – Sekondeleutnant; Fregoli, ein Mime; Panamaschieber.
    Katalog kommunikativer Knackpunkte:
    – Beim Zurückgrüßen nicht hindern können, daß einem das geistige Bemühen anzusehen ist, weil man zwischen drei oder vier Personen zu entscheiden versucht, wessen Gruß man da erwidert.
    Verlorene Praxis:
    – Eine reiche Heirat machen, dank derer man Kampf oder Ostentation nicht mehr nötig hat.
    – Dadurch, daß man allmählich andere Werte als diejenigen erwirbt, an die man in einer frivolen Jugend geglaubt hat, seinen Charakter aus der Verkrampfung lösen und seine Vorzüge wirksam herauskehren.
    – Gleich einer schwerfälligen Schwimmerin, die das Ufer nur noch in großer Entfernung erkennt, mit Mühen die Wellen der Zeit zerteilen, die über einen hinwegfluten.
    – Als Besucher einer Elektrizitätsausstellung nicht glauben können, daß der Phonograph sogar die unmittelbar aufgenommene Stimme einer Person unverändert wiedergibt.
    – Sich aus Kummer über den Tod des Vaters ein Jahr in einem Sanatorium aufhalten und anschließend versuchen, den Zweispänner dieses bedeutenden Mannes einem historischen Museum zum Geschenk zu machen.
    – Einem Herrn, um ihn zu demütigen, als Sekundanten seinen Hausmeister oder den Butler schicken.
    177 . Mo, 22.1., Berlin
    Mit Achtzehnjährigen habe ich keine gemeinsame Sprache mehr, obwohl ich mich doch selbst kaum erwachsener fühle. Wenn ich sie verstehen will, muß ich als Ethnologe in ihre Welt reisen. Aus einem E-Mail-Wechsel mit einer jungen Leserin entnehme ich, wie ich mir heutige Achtzehnjährige vorstellen muß:
    Sie guckt bei Männern auf die Nase, die Schuhe und die Hände.
    Sie stellt Kassetten zusammen mit guten Liedern, Lieblingsliedern und Risikoliedern. Aber dann traut sie sich nicht, sie dem Jungen zu geben und hört sie selber, während sie ihn von weitem beobachtet.
    Sie wäre gerne dünner, weil sie von starken Armen in die Luft gehoben und einmal im Kreis geschleudert werden will. Aber eigentlich behauptet sie das nur, weil sie weiß, daß es ein Klischee ist.
    Sie schreibt Aufsätze, bei denen der Lehrer viele Haken setzt, aber die meisten davon in Klammern.
    Sie findet es komisch, wenn ihr Name in ganz normale Sätze eingebunden wird, die an sie gerichtet sind.
    Sie fragt sich, ob man auf dem Schlagzeug einen traurigen Rhythmus spielen kann.
    Sie macht Abitur und hält im Kunst-Leistungskurs ein Referat über ostasiatische Landschaftsmalerei.
    Sie verspürt, wenn sie bestimmten Männern begegnet, das Bedürfnis, sich heimlich auf den Boden zu legen, um nicht

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