Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schmidt Liest Proust

Schmidt Liest Proust

Titel: Schmidt Liest Proust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Schmidt
Vom Netzwerk:
über ›Stätten der Kunst‹ «, die einem den individuellen Reiz von Mantegna, Wagner oder Siena nahebringen. Das Bordell als Schule zur Verfeinerung des Geschmacks für Frauen.
    Bis auf das Erlebnis auf den Champs-Elysées ist bei seiner Liebe zu Gilberte nie die Rede von Erotik. Vielleicht kann man diese Form von reiner Liebe nur pflegen, wenn man über eine gut ausgebaute Infrastruktur an Freudenhäusern und eine solide Doppelmoral verfügt. So kann er sich ganz dem Hin und Her mit Gilberte widmen. In der Liebe gibt es keine Ruhe, » da das, was man erlangt, immer nur der Ausgangspunkt für neue Wünsche ist «.
    Eines Tages will Gilberte zur Tanzstunde, muß aber zu Hause bleiben, um sich um ihren Gast Marcel zu kümmern. Er spürt ihren Unmut und gibt sich vorbeugend kühler als gewöhnlich. » Ich glaube, neulich ging die Uhr nach «, sagt er mehrmals zu ihr und meint damit: » Wie böse du heute bist. « Aber Gilberte bleibt hart, und » wenn kein Lächeln in ihren Augen entstand und mir ihr Antlitz entschleierte «, wirkt ihr Gesicht fast häßlich. Es ist unsere Natur, » die aus sich selbst unsere Liebe und beinahe auch die Frauen, die wir lieben, ja sogar ihre Fehler schafft «. Ein ungeheurer Gedanke, wir schaffen die Fehler an unseren Frauen selbst. Der Kontrolleur produziert Schwarzfahrer, der Pünktliche produziert Unpünktlichkeit, der Mann produziert unvollkommene Frauen. Eigenschaften, die dem anderen nicht auffallen, habe ich gar nicht.
    Marcel beschließt, sie nicht mehr zu sehen, und sofort regt sich » dies Flattern des Kompasses in meinem Innern «. Und was macht er? Er entwirft sich widersprechende Konzepte für Briefe an Gilberte. Also wieder Briefe … Er weiß, daß er sie etwas vernachlässigen sollte, um nicht zu demütig zu erscheinen, dabei würde er gerne sofort zu ihr eilen. » Ich schrieb Gilberte einen Brief, in dem ich meinen Zorn frei sich ausströmen ließ, nicht jedoch ohne auch gleich für alle Fälle Rettungsbojen in Gestalt von Zufallswendungen anzubringen, an die meine Freundin eine Versöhnung hätte anknüpfen können. « Man kann sich denken, wie unwillig Gilberte so ein wohlkomponiertes Produkt überfliegt, wer hätte sich je von Worten zurückerobern lassen, vielleicht müßte die Angesprochene dafür selbst ein wenig Autor sein.
    Seine Konsequenz hält er nicht lange durch. Gleich am nächsten Tag will er wieder zu ihr gehen, und er fragt sich, warum er überhaupt so viel Willenskraft darauf verschwendet hat, es nicht zu tun. Aber, wenn wir lieben, sind wir außerstande » als würdige Vorgänger des Wesens zu handeln, das wir sein werden, wenn wir nicht mehr lieben «.
    Verlorene Praxis:
    – Sich im Rendezvoushaus beim Warten auf ein Mädchen, das » in Betrieb « ist, von teilweise oder komplett unbekleideten Gesprächspartnerinnen Kräutertee reichen lassen.
    – Den Gedanken und Handlungen einer geliebten Frau gegenüber ebenso hilflos sein wie die ersten Physiker den Naturphänomenen.
    34. So, 20.8., Alt-Lipchen, vormittags
    Das Rumpeln einer Schubkarre auf dem Hof. Der Klang der Stubenfliege, der immer der gleiche bleiben wird, ohne irgendwann altmodisch zu wirken. Auch das Layout der Landschaft muß nicht aktualisiert werden. Ein Haus, in dem jede Veränderung stören würde, bis hin zur Dose Anti-Mücken-Spray aus dem VEB Aerosol-Automat Karl-Marx-Stadt, die seit dreißig Jahren im Badezimmer an derselben Stelle steht und nie benutzt wird. Wer gibt uns das Recht, sie jetzt noch wegzuwerfen? Jedes Detail am Haus ist eine Lösung für ein Wohnproblem, das sich früher einmal gestellt hat, und auch, wenn man das Problem nicht mehr kennt, weil die Erbauer des Hauses nicht mehr leben, muß man die Lösung respektieren. Wenn es nach mir ginge, dürfte nur bastelnd eingegriffen werden, also auf provisorische, mit den Jahren ihren Zweck erfüllende Weise, mit vorgefundenem Material.
    Der Wind kündigt den Herbst an, vor neun Jahren habe ich hier um diese Jahreszeit den letzten Versuch unternommen, doch noch ein Buch zu schreiben, ohne diesen Ort hätte ich es vielleicht nie getan. Ich wüßte gerne, wie Proust das Ruder noch herumgerissen hat, da er doch offenbar reich war, Unterhaltung und eine Dienerschaft hatte, wozu da noch schreiben?
    Im Schatten junger Mädchenblüte, S. 192–213
    Hat Proust nicht gerade ein halbes Buch lang von einer unglücklichen Liebe berichtet? Und jetzt schon wieder dasselbe Hin und Her, ohne daß man das Gefühl hätte, er würde sich

Weitere Kostenlose Bücher