Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schmidt Liest Proust

Schmidt Liest Proust

Titel: Schmidt Liest Proust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Schmidt
Vom Netzwerk:
im Bezirk Suhl an Optimierungsaufgaben gearbeitet hätte. Der Mauerfall war für mich so etwas wie das scheuende Pferd für Swann, ohne das er Odette nie geküßt hätte.
    Im Schatten junger Mädchenblüte, S. 213–235
    Wie bei der »Heimat«-Serie ist dem Text eine technikgeschichtliche Spur unterlegt. Jetzt spricht man davon, daß Madame Verdurin sich eine vollständig mit elektrischem Licht ausgestattete Villa gekauft hat. Die Schwägerin einer Freundin habe sogar ein Telefon. » Sie kann bei einem Lieferanten etwas bestellen, ohne sich aus dem Hause zu rühren. « Vielleicht war das Telefon ja ursprünglich gar nicht für Gespräche gedacht, sondern für Anrufe bei Lieferanten, und daß wir es heute dazu benutzen, uns zu unterhalten, ist nur eine eigentlich nicht eingeplante Funktion, wie das Chatten beim Internet.
    Marcel ist immer noch unglücklich wegen Gilberte: » Der 1. Januar war für mich dieses Jahr ein besonders schmerzlicher Tag. Alle Termine und Daten müssen es für den Unglücklichen sein. « Erst Mitte Januar schwindet seine Hoffnung auf einen Neujahrsbrief (zu dem Zeitpunkt kann man sich ja schon fast wieder auf den nächsten Neujahrsbrief freuen). » Wenn man verzichtet, so sucht man nicht seinen Schmerz zu ermessen, sondern ihn der, die ihn verursacht hat, in der rührendsten Form zu Bewußtsein zu bringen. Man sagt Dinge, die man gern sagen möchte und die der andere nicht versteht; man redet nur für sich selbst. « Liebe ist eigentlich eine egozentrische Angelegenheit, und die, die wir lieben, sind nie auf dem Niveau unserer Gefühle.
    Als Professor würde ich meine Studenten zwingen, die von Proust beschriebenen Inneneinrichtungen aus Pappe nachzubauen. Bei Madame Swann tritt inzwischen » Ostasien mehr und mehr hinter dem Rokoko zurück; und die Kissen, die jetzt zur Erhöhung meiner Behaglichkeit Madame Swann mir in den Rücken stopfte, nachdem sie sie zurechtgedrückt, waren mit Louis-Quinze-Gewinden und nicht mehr wie früher mit chinesischen Drachen verziert «. Meine Vorstellungskraft versagt an solchen Stellen. Als würde man sich eine VOGUE vorlesen lassen, um hinterher alles nachzuzeichnen.
    » Wegen ihres lebhaften Geistes zog Madame Swann die Gesellschaft von Männern der von Frauen vor. Doch wenn sie die letzteren kritisierte, so tat sie es stets als Kokotte, indem sie auf Mängel hinwies, die ihnen bei den Männern schadeten, dicke Fesseln, einen häßlichen Teint, orthographische Fehler, Haare an den Beinen, einen widerwärtigen Geruch, gefärbte Augenbrauen. « Bis auf Orthographie war ich eigentlich bei allen diesen Mängeln immer tolerant.
    Odettes Toilette ist ein Werk, das man studieren muß, um es zu verstehen, der » vergeistigte Apparat einer ganzen Kultur «. Nur ein Beispiel, wie es sich anhört, wenn man diesen » vergeistigten Apparat « mit Worten nachzeichnet: » Und manchmal gaben in dem blauen Samt einer Taille die Andeutung eines à la Henri II geschlitzten Wamses, in der schwarzen Atlasrobe eine leichte Raffung, die entweder in der Schulterpartie an die ›Keulenärmel‹ von 1830 oder um die Hüften herum an die ›Paniers‹ der Louis-Quinze-Mode erinnerte, den Kleidern einen kaum wahrnehmbaren Einschlag von Maskenkostümen, indem sie in das Leben der Gegenwart einen unmerklichen Hauch von Vergangenheit hineintrugen, und fügten dadurch der Person Madame Swanns den Zauber gewisser historischer oder romantischer Heldinnen hinzu. «
    Warum wird eigentlich so lange von der Kleidung der Mutter geschwärmt, wenn man die Tochter liebt? Marcel gewöhnt sich an den Schmerz, sie nicht zu sehen. Wenn man länger gelitten hat, bleibt man ja auch lieber konsequent: » Denn zweifellos kann man zwar ihre Abwesenheit nur ertragen, indem man sich diese als etwas nur Vorübergehendes denkt und in dem Glauben, daß man eines Tages sich dennoch wiedersieht; andererseits aber fühlt man, um wieviel weniger schmerzlich die täglichen Träume von naher Wiedervereinigung geworden sind, als eine Begegnung es wäre, auf die etwa Eifersucht folgte, so daß die Nachricht, man werde die Freundin wiedersehen, einen nur wenig beglückt. « Zur Genese des Autors gehört es dann, sich eine bessere Welt vorzustellen, auch wenn man, anders als im Politischen, kaum eine Möglichkeit hat, sie durch Aufwiegelung der Massen und Instrumentierung des Neidpotentials benachteiligter Gesellschaftsschichten Wirklichkeit werden zu lassen: » Wie sehr zieht man dann die so elastische Erinnerung, die

Weitere Kostenlose Bücher