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Schmidt Liest Proust

Schmidt Liest Proust

Titel: Schmidt Liest Proust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Schmidt
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wiederholen, aber auch ohne, daß daran viel erwähnenswert wirkt. Marcel sieht Gilberte täglich, sie bekommt ihn satt, und er zieht sich zurück und leidet. Er hofft auf die morgendliche Post und dann auf die vom Nachmittag. Die Aufregung wird schließlich chronisch, weil » die durch das Warten verursachten Störungen kaum Zeit gehabt hatten, sich etwas zu legen, wenn bereits ein neuer Anlaß zum Warten da war und es schließlich keine einzige Minute am Tage mehr gab, in der ich mich nicht in einem Zustand der Spannung befand, wie er schon eine Stunde lang schwer zu ertragen ist «. Was soll man da heute sagen, mit E-Mail und SMS? Teuflische Erfindungen für den unglücklich Verliebten, weil sie die Erwartung auf jede Sekunde des Tages ausdehnen. Moderne Kommunikationstechnik erzeugt nicht nur Kommunikation, sondern auch Schweigen.
    Um Gilberte zu beweisen, daß er auch ohne sie kann, besucht Marcel regelmäßig Odettes Salon, ohne Gilbertes gleichzeitig stattfindende Teegesellschaften zu beehren: » Jeder Besuch, den ich Madame Swann machte, ohne Gilberte zu sehen, war grausam für mich, aber ich fühlte, daß er um ebensoviel das Bild verschönte, das Gilberte von mir in ihrer Vorstellung trug. « Wie schön kommt man sich vor, wenn man unglücklich verliebt ist, edel im Verzicht und aufnahmebereit für feinste Erschütterungen der Seele. Jeder anderen als der Verehrten würde das auch auffallen.
    Was die Damen in Odettes Salon besprechen, kann man zum Glück höflich übergehen. Wie tragisch es sei, mit einem Politiker verheiratet zu sein und deshalb immer mit langweiligen Leuten aus den Ministerien zu tun zu haben. » Und dann sehen Sie, Madame, ist da der Chef des Protokolls, der einen Buckel hat; ich kann einfach nicht anders, wenn er noch keine fünf Minuten bei uns ist, muß ich seinen Buckel berühren. « Ob man seine Pflanzen bei Lemaître, Debac oder Lachaume kaufen solle. Und Gebäck: » [I]ch weiß, sie beziehen alles von Rebattet. Ich muß sagen, ich verfolge da eine eklektischere Methode. Petits Fours, überhaupt alle Kleinigkeiten, kaufe ich oft auch bei Bourbonneux. Aber ich gebe zu, von Eis verstehen sie dort nichts. Für Bavaroise und Sorbet ist Rebattet der Künstler. «
    Verlorene Praxis:
    – Sich die Mühe machen, sein Personal von Grund auf zu erneuern.
    – Als Gastgeberin nur als Bindeglied eine Rolle spielen.
    – Den Höhepunkt seines Tages nicht in dem Augenblick sehen, da man sich anzieht, um in Gesellschaft zu gehen, sondern in demjenigen, da man sich für einen Mann entkleidet.
    35. Mo, 21.8., Alt-Lipchen
    Einsamkeit ist eine wertvolle Ressource, die Grundlage jeder intellektuellen Leistung, und fast so sehr wie Prousts Roman selbst interessieren mich inzwischen die Umstände seiner Niederschrift. Wie Thomas Mann mit sechs Kindern so dicke Bücher schreiben konnte, ist mir ein Rätsel. Die Frau muß sich als eine Art Erzengel verstehen, der das Arbeitszimmer bewacht und schlechte Nachrichten abwehrt, aber wer will mit so etwas verheiratet sein? Tagträume, selbstvergessenes Dämmern, mit dem man sich erneuert, sind undenkbar, wenn Geräusche und Bemerkungen auf einen niedertröpfeln wie das Wasser auf die Schädeldecke des mongolischen Folteropfers. Ein Leben zu führen wie dieser russische Mathematiker, der auf eine Million Dollar verzichtet, weil er aus Desinteresse seinen Beweis der Poincaré-Vermutung nicht publiziert, er sieht ihn nur als Teilschritt zum Beweis eines größeren Problems. Er sammelt Pilze und fährt nicht zu Konferenzen, mehr weiß man nicht von ihm. Ach, wie beneidet man die wirklichen Genies um ihre Reisen in Bereiche der Abstraktion, von denen man keine Vorstellung haben kann. Täglich daran zu arbeiten, die Mathematik auszubauen, genau zu wissen, wann man etwas geschafft hat, weil die Beweisführung nachprüfbar ist, wenn auch mit großem Aufwand und nur von den Besten unter den Kollegen. Ein Leben ohne Kritiker unter der Sonne der Objektivität. Dagegen ist die Literatur ein kümmerlicher Garten, der ständig von Barbaren überrannt wird. Es gibt in ihr keine Kriterien, die Spreu vom Weizen zu trennen, und jeder darf sich berufen fühlen zu urteilen, nur weil er eine Meinung über das Leben hat. Aber es ist auch noch kein Beweis für die eigene Klasse, von der Kritik nicht beachtet zu werden. Wenn die Wende nicht gekommen wäre, hätte ich mein Mathematikstudium beenden müssen. Ich wäre ein mittelmäßiger Mathematiker geworden, der in irgendeinem Betrieb

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